Iris DeMent - Sing the delta
Flariella / Cargo
VÖ: 05.10.2012
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
Die südstaatliche Seelenskizze
Die Wahl wurde getroffen. Kurz bevor dieser Text online gestellt wurde, stimmten die Amerikaner einmal mehr darüber ab, ob sie lieber schneller pleitegehen oder schneller in den nächsten Krieg ziehen wollen. Die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Eintrittszeitpunkten dieser Ereignisse definierte das Maximum der Alternativen, zwischen denen das amerikanische Volk wählen durfte. Auch für die sich im fortgeschrittenen Implosionsstadium befindenden Europäer, die in amerikanischer Perspektive bestenfalls noch Außendarsteller mit Komparsenfunktion sind, war die Wahl zwischen Demokraten und Republikaner eher eine Frage der Etikette. Die wahrgenommene Bedeutungslosigkeit durch die einen ist dabei nur das Spiegelbild der wahrgenommenen Befremdlichkeiten durch die anderen. Mit Skepsis oder Hochmut blicken die Bewohner des alten Kontinents oftmals über den großen Teich und pflegen wohl aus Gründen der Selbstberuhigung gerne das illusorische Bild einer gespaltenen Nation, die in ihren extremeren Erscheinungsformen als Brutstätte bibelfester, waffengeiler und marktverherrlichender Tyrannen wahrgenommen wird. Die Wahrheit ist: In ihren gemeinsam geteilten Grundwerten sind die Amerikaner vor allem den zynischen Zentraleuropäern bei weitem überlegen. Ihnen ihre teils konservative Lebensführung vorzuwerfen, ist nur der Neid- und Ablenkungsreflex einer orientierungslosen Gesellschaft, in der traditionelle Arten des Zusammenlebens mehr und mehr verfallen.
Nun steht die amerikanische Songwriterin Iris DeMent sicher nicht im Verdacht, konservative Propaganda zu verbreiten, setzte sie sich im Verlauf ihrer bisherigen, erst mit 25 begonnenen Karriere als Künstlerin doch stets kritisch mit allzu reaktionärer Politik und Religion auseinander. Doch Iris DeMent ist auch eine Verfechterin jener um familiären Zusammenhalt und um Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln bemühten Bodenständigkeit, die in der weitläufigen Prärie des südlich gelegenen Arkansas jedem Neugeborenen in die Wiege gelegt zu sein scheint. DeMent selbst wurde allerdings schon in frühester Kindheit entwurzelt. Als sie drei Jahre alt war, zog es die Familie nach Los Angeles, doch ihr Herz blieb dort, wo sie das Licht der Welt erblickte. Im Titeltrack ihres neuen Albums vermittelt sie uns nun auf ebenso berührende Weise wie im später folgenden "Makin' my way back home" eine in ihrer Wahrhaftigkeit schmerzende Ahnung davon, was es heißt, sich einer Region wie dem westlich des Mississippi gelegenen Arkansas Delta aufs Innigste verbunden zu fühlen. Nicht nur hier fällt auf, dass die Klangfarbe ihrer Stimme einen im Vergleich zu früher deutlich angenehmeren Touch aufweist. Nachdem ihr letztes Album mit Eigenkompositionen bereits 16 Jahre zurück liegt, mag es die Milde des fortgeschritteneren Alters der inzwischen 51-Jährigen sein, die sich hier bemerkbar macht.
Überhaupt: So lange das Album zum Heranreifen brauchte, so musikalisch und inhaltlich ausgereift wirkt es. DeMent verknüpft ihr außergewöhnliches Können als im Delta mit der dort typischen Country- und Folk-Musik sozialisierten Künstlerin mit nachdenklichen, aber präzisen Lyrics. Vielleicht am besten kommt das in "The night I learned how not to pray" zum Ausdruck. Der Song erzählt davon, wie in tragischen Kindheitstagen ihre Gebete nicht erhört wurden, als ihr jüngerer Bruder seinen schweren Verletzungen erlag. "That was the night I learned how not to pray / God does what he wants to anyways", erkennt DeMent rückblickend. In Anbetracht des positiven Beiklangs muss das weniger eine verzweifelnde als vielmehr befreiende Erfahrung gewesen sein. Bei allem Hadern mit Gott und der Welt hat sie sich nämlich stets ihre Spiritualität bewahrt. Wohl nicht zufällig legt sie gleich im eröffnenden "Go on ahead and go home" eine wiederholt mit viel stimmungsvollen Lokalkolorit versehenes Bekenntnis ab. Generell ist "Sing the delta" ein Katalog klarer Bekenntnisse zum kritischen Wertkonservatismus amerikanischer Prägung. So wie DeMents religiöse Selbstreflexion nicht als atheistischer Abgesang missverstanden werden sollte, drückt sich in ihren leidenschaftlichen Reverenzen an Tradition und Familie keine nostalgische Verklärung aus. "Mama was always tellin' her truth" ist vor diesem Hintergrund weder eine Verneinung noch Verherrlichung natürlicher Autoritäten. Und wenn DeMent im zu Tränen rührenden "Before the colors fade" sowie im nicht minder wundervollen "Out of the fire" in Erinnerungen schwelgt, skizziert sie so pointiert wie persönlich das Seelenleben amerikanischer Südstaatler, an dem teilzuhaben sich für entwertete Europäer nicht nur zur Präsidentschaftswahl lohnt.
Highlights
- Before the colors fade
- The night I learned how not to pray
- Out of the fire
Tracklist
- Go on ahead and go home
- Before the colors fade
- The kingdom has already come
- The night I learned how not to pray
- Sing the delta
- If that ain't love
- Livin' on the outside
- Makin' my way back home
- Mornin' glory
- There's a whole lotta heaven
- Mama was always tellin' her truth
- Out of the fire
Gesamtspielzeit: 59:24 min.
Referenzen
John Prine; Nanci Griffith; Mary Gauthier; Allison Moorer; Emmylou Harris; Lucinda Williams; Rosanne Cash; Gillian Welch; Jerry Jeff Walker; Rodney Crowell; Guy Clark; Mary Chapin Carpenter; James McMurtry; Todd Snider; Steve Earle; Tift Merritt; Suzanne Vega; Gram Parsons; Laura Cantrell; Robert Earl Keen; Lyle Lovett; Dave Alvin; Townes Van Zandt; The Carter Family; Dwight Yoakam; The Nitty Gritty Dirt Band; Ryan Adams