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Swans - The seer

Swans- The seer

Young God / Cargo
VÖ: 07.09.2012

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Prozession der Einsamkeit

Na klar, wenn Swans-Chef-Pessimist Michael Gira zum Weltuntergangs-Tanz lädt, so kommen sie alle, ebenso zahlreich wie großmütig: Gitarrist Norman Westerberg ist seit dem 1983er Swans-Debüt ohnehin nicht mehr zu vertreiben, erstmals seit der Jahrtausendwende ist aber auch Jane Jarboes Stimme auf zwei Liedern wieder zu hören. Die gesamte Akron/Family unterstützt sie dabei, und gleich zu Beginn feiern Lows Alan Sparhawk und Mimi Parker die nach "My father will guide me up a rope to the sky" zweite Wiederauferstehung der New Yorker Düster-Noise-Urgesteine. Dass Gira seinen Special guests und Studiomusikern dabei keineswegs den Blitzlicht-Teppich ausrollt, sondern sie lieber wie einzelne Schnipsel durch seine Konfettiparade schleudert, versteht sich im Grunde von selbst. Wie sehr, wie gründlich und intensiv sie alle auf "The seer" dennoch an einem Strang ziehen, erklärt sich hingegen nur sehr viel schwerer - lässt man außer Acht, dass in der Endzeit, in der "The seer" durch menschenleere Häuserschluchten prozessiert, ohnehin jeder für den anderen Sorge tragen sollte.

Denn es gibt einiges auszuhalten auf "The seer". Die Stimmung ist stets gefährlich, dunkel, mit bestenfalls ein paar Tupfern blauen Himmels. Und auch die Mittel ändern sich kaum. Der 32-minütige Titelsong etwa beginnt mit flirrend anschwellenden Drones, Windspiel- und Becken-Tickern, bevor Swans für eine halbe Ewigkeit in ein Mäandern abdriften, von dem alles von Schlagzeug bis Violine nicht eine Note abweicht, sich jedoch zu einem klaustrophobischen Humpeln ineinander verschiebt. Auch der Ein-Takt-Akkordbogen von "Mother of the world" kennt minutenlang keinerlei Erlösung oder gar Katharsis. Erneut brechen die Instrumente vor allem neue Rhythmusbrocken aus dem Klangkörper heraus, die Marschroute bleibt jedoch dieselbe - bis Gira die Prediger-Stimme erhebt und die Songs in trippigere, ja melancholische Passagen davonsegeln.

So herrscht auf "The seer" eine beinahe klassische Stimmung zwischen Bedrohung, Psychose und Hoffnungslosigkeit. Das ist Orchester- und Schützengraben zugleich: Klaviertupfer, Cellos, Zittern, Akkordeon spielen stets rhythmisch-melodische Schleichwege, die die Songs ins Düstere führen - wo sie von Schalmeien, Gänsequäler-Klarinetten und Gitarren-Mondscheingeheul so lange im Kreis gedreht werden, bis der Hörer weiß, weshalb Hänsel und Gretel besser Pumpguns mit in den Wald genommen hätten. Dazu kehlen Vokale im Mönchschor-Modus, oder Gira spricht katatonische Horror-Score-Beschwörungsformeln. Doch ob nun Engelchen oder Teufelchen - letztlich zeigen sich beide nur wenig klerikal. Stattdessen werden sie zu einzelnen Lauten minimiert, die einer verzweifelten Atomisierung Ausdruck verleihen. Kein Hilfeschrei, kein Jammertal, aber auch keine kollektive Hymnik: Indem Swans ihrer Musik all diese Attribute entreißen, bleibt letztlich allein die Gewalt dieser Verstümmelung zurück.

Was heißt: "The seer" hält ausschließlich und unerbittlich drauf. Dieses Album will analysieren, dokumentieren, inszenieren und keinen (zu) einfachen Suspense. Dennoch kombinieren Swans keinesfalls ein einziges tiefes Grollen. Obwohl der Drone-Anteil in "A piece of the sky", dem Chaos-Core-Finale von "93 Ave. B. blues" oder dem eröffnenden "Lunacy" nochmals erhöht wurde, spielen sich Giras Langzeit-Weggefährten Phil Puleo und Thor Harris oft genug in einen schwebenden, doch kellertiefen Shuffle, den der Rest des Instrumentenparks wie Insektenschwärme den noch zuckenden Kadaver umkreist. Ja, letztlich inszeniert sich jeder Ton auf "The seer" als unfassbar lebhaftes Gewimmel, das die Ansicht des Todes als Schwerkraft nutzt. Dass genau diese Gefahr des Vergehens zu einer massiven Vitalität überleitet, ist eine der abenteuerlichsten, zugleich aber machtvollsten Gesten von "The seer".

Etwas sehr Rohes, Ursprüngliches und Ernsthaftes wirft sich im Ergebnis durch des Hörers Kopf. Und "The seer" zeigt sich als ein einziger tiefschwarzer Romantizismus, der die Produktionsseite seiner ungeheurenden Urtümlichkeit mit Wonne verdrängt. Stattdessen lässt Gira seine Musik klingen, als sei sie so zeitlos wie sonst nur durchstochene Augäpfel in der Kunstgeschichte. Düster-, Atmo-, auch der gute alte Neo-Folk werden in dieses Auge hinabgerissen. Selbst wenn "The daughter brings the water" jeden fünften Takt in eine beinahe lichtspendende Country-Lap-Steel öffnet, pocht sich alles sogleich wieder auf den Puls eines in Würde erkalteten Herzens herunter. Und ohnehin war das nur das Vorspiel für "Song for a warrior", auf dem Yeah Yeah Yeahs' Karen O all die Grabeskälte für einen kurzen Moment zu Lagerfeuer-Melancholie erweckt und Platz schafft für das klassische, gar freundliche Postrock-Vibrieren von "Avatar" und "A piece of the sky" - sowie für die abschließende knappe halbe Stunde No-Future-Apokalypse.

Spätestens wenn "The apostate" eine fast vierzehnminütige Noise-Doom-Welle in einen schwammigen Funk-Eintakter flutet und sich Gira in ein Fauchen versteigt, das Nick Cave zu Zeiten von The Birthday Party nicht formvollendeter aus der Hühnerbrust hätte göbeln können, konstatiert "The seer" abschließend noch einmal seinen ungebrochenen Punk-Willen. Deshalb wundert es schlussendlich auch nicht weiter, dass sich das Album doch lieber in Laibach-Tribal statt in Endzeit-Depression verabschiedet: Denn wenn die Welt schon zugrunde gegangen ist, so schmeißt zwar niemand mehr Konfetti, andererseits beschwert sich aber auch keiner mehr über den Lärm - ein Lichtblick, der nach knapp zwei Stunden "The seer" unbedingt erlaubt sein sollte.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights

  • Mother of the world
  • The seer
  • 93 Ave. B blues
  • A piece of the sky
  • The apostate

Tracklist

  • CD 1
    1. Lunacy
    2. Mother of the world
    3. The wolf
    4. The seer
    5. The seer returns
    6. 93 Ave. B blues
    7. The daughter brings the water
  • CD 2
    1. Song for a warrior
    2. Avatar
    3. A piece of the sky
    4. The apostate

Gesamtspielzeit: 119:09 min.

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User Beitrag

Mayakhedive

Postings: 2514

Registriert seit 16.08.2017

2019-06-06 15:56:47 Uhr
Für mich ist “The Seer“ gerade wegen seiner rohen Ungeschliffenheit gerade noch vor “To be Kind“, gerade so als Gesamterfahrung.
Kann aber auch daran liegen, dass sie mein Einstand war (Danke Rezi hier).
Super waren sie durch alle Phasen. Ich weiß noch, was ich gestaunt hab, als ich das Erste Mal das Debüt hörte, das wirklich wie musikgewordener Rost klingt.
Tolle Band, bei der das Nachhören ihrer Entwicklung wirklich großen Spaß macht.

Felix H

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 9300

Registriert seit 26.02.2016

2019-06-06 15:47:28 Uhr
Toll ist halt, wie unterschiedlich sie in all ihren Phasen klangen und wie gut man ihre Identität trotzdem überall wiedererkennt.

"To Be Kind" ist für mich langfristig gleichwertig mit "The Seer", vielleicht weniger entrückt und außerweltlich, dafür kompositorisch ein Stück weiter.
Donti
2019-06-06 15:45:04 Uhr
Weiss ich, der Plan ist jetzt Seer, dann To be kind, dann Soundtrack for the blind und dann egal.
Seer hat mich gerade so gefesselt, dass ich mit Herzklopfen in der Arbeit sitz und es nicht mehr erwarten kann, es endlich am Abend wieder hören zu können. ;-)

Felix H

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 9300

Registriert seit 26.02.2016

2019-06-06 15:42:34 Uhr
Da steht dir noch viel bevor. :-) "The Glowing Man" sehe ich qualitativ sogar noch in der hinteren Hälfte der Studioalben.
Donti
2019-06-06 15:04:42 Uhr
Ich habe Swans erst mit Glowing Man zum ersten mal gehört, jetzt für ich mir Seer zu Gemüte.
Hat mich ab der ersten Sekunde absolut gepackt!
Freu mich, die Band noch mehr zu erfahren.
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