Rosi Golan - Lead balloon
Snowhite / Universal
VÖ: 08.06.2012
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
In himmlischen Sphären
Der Eurovision Song Contest 2011 war für Everyone's Darling Lena Meyer-Landrut weniger großartig als erhofft. Stefan Raab hatte gerade eine neue Wagenladung Fremdkompositionen für seine junge Adeptin bestellt, darunter eine mit dem Titel "I like you", geschrieben vom ehemaligen Vega-4-Sänger Johnny McDaid und eben Rosi Golan. "I like you" schaffte es gegen die Erwartungen von Lenas Mäzen jedochnicht in die Endausscheidung - immerhin landete dieser von der Eurovision-Jury als eher unscheinbar empfundene Song aber umarrangiert auf Golans zweitem Album "Lead balloon". Geschmäckler mögen jetzt die Nase rümpfen. Aber die gebürtige Israelin verbindet mit Lena vor allem eins: ein himmelweiter künstlerischer Unterschied. Was bei Letzterer nämlich musikalisch als blutleere Konfektionsware daherkommt, wird bei Golan zu ätherischer, überirdischer Schönheit.
Und das gilt nicht nur für "I like you". Golan zeigt auf "Lead balloon", dass sie mit ihrer Musik dem Himmelbett einige Etagen näher ist als ihre deutsche Kollegin. Schon im Opener "Paper tiger" lustwandelt sie zwei Meter über dem Boden einer emotionalen, impressionistischen Stilwelt, an deren Farbgebung wohl ganze Künstlergemeinschaften scheitern würden. Im Vorbeigehen hat sie den Song geschrieben, an dem Regina Spektor heute noch erfolglos im Tourbus sitzt. Selbst Becks gleichnamige Scientologen-Streichersause auf "Sea change" entpuppt sich gegen diesen Opener als ausgebleichtes Papierknäuel. Golan zelebriert sogleich ein stilistisches In-die-Schranken-Weisen. Mit Seelenruhe und einem amüsierten Lächeln entlarvt sie dabei männliches Gehabe, laut dem es immer nur um die Größe geht. Hätte Page Hamilton dieses Lied nur vor dem leidigen Helmet-Reunionalbum "Size matters" hören können, hätte er gewiss eher seine Gitarre als sein eigenes Denkmal zu Feinstaub zerlegt.
Golan hingegen errichtet zielsicher differenzierte Lieddenkmäler, die sich fokussierter in die Höhe erheben als die architektonischen Bauten eines Erich Mendelsohn. Nichts ist zuviel und nichts unnötig. Überall exakt auf den Punkt gespielte Songperlen. Etwa das beschwingte "You & I" oder das melancholisch irisierende "Flicker", dessen Gitarre melancholischer den Mond anweint als die kleinste Fiedel auf Erden. "Cause my heart’s in two places / And I’m feeling like a candle / Burning at both ends / Till it flickers, flickers, flickers" singt Golan mit einer Nonchalance zwischen Stratosphäre, zweitem Jahres-Frühling, Sexappeal und hoffnungsheller Resignation. Nicht umsonst hat das Komponieren für sie einen kathartischen Effekt: Wessen Herz hier nicht erweicht, der ist wahrscheinlich untoter als Robert Pattinson in "Twilight". Besonders wenn Golan in der traurigen Nick Drake-Reminiszenz "Seeing ghosts" ihre Gespenster besingt und so destruktive Emotionen sensibel mit einem Lächeln enwaffnet und mesmerisierende musikalische Anmut erschafft.
Jeden Song durchzieht ein Wechselbad aus Inspiration und leichter Traurigkeit, in dem immer wieder Genialität aufblitzt. Diese dominiert besonders im letzten Drittel, wenn Golans Ballon die Wolkendecke durchbricht, den Indie ablegt und den Folk als Antrieb nutzt. Die Songs heißen passenderweise "Fly away" und "Can't go back". Wohin kann solche Musik auch zurück? Für diese sanguinischen und gleichzeitig leichten Songs gibt es keinen Boden. Mit "A lot of things", dem letzten Höhepunkt auf einem Album voller Höhepunkte, lässt Golan mit einem aufbrausenden Refrain ihren Ballon platzen. Was zurück bleibt, wurde bereits in "Everything is brilliant" angekündigt: "Everything is brilliant / And nothing hurt." Das ist Programm. Rosie Golan ist nicht weniger als ein Meisterwerk geglückt: Lieder, die besser wirken als zwei Überdosen Serotonin-Blocker. 40 Minuten lang - und darüber hinaus.
Highlights
- Paper tiger
- Flicker
- Fly away
- A lot of things
Tracklist
- Paper tiger
- You & I
- Flicker
- Everything is brilliant
- I like you
- Lead balloon
- Underneath a beating heart
- Say it anyway
- Seeing ghosts
- Fly away
- Can't go back
- A lot of things
Gesamtspielzeit: 39:50 min.
Referenzen
Regina Spektor; Paula Cole; Fiona Apple; Azure Ray; Aimee Mann; Norah Jones; Tori Amos; Beth Gibbons & Rustin Man; Brandi Carlile; Alanis Morissette; Mary Black; Patty Griffin; Kathleen Edwards; Rachael Yamagata; Emmylou Harris; Mary McBride; Emilíana Torrini; Alison Krauss; Isobel Campbell; Heather Nova; Natalie Imbruglia; Elysian Fields; Jolie Holland; Amanda Palmer; Corrinne May; Goldfrapp