Petter Carlsen - Clocks don't count

Function / Cargo
VÖ: 25.05.2012
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Architekt der Melancholie
Petter Carlsen errichtet sich keine Denkmäler. Vielmehr baut er expressionistische, neoromantische Herrenhäuser im Irgendwo der Einsamkeit. "A world of my own / To be alone / Just me / Longing for the night." Seine architektonischen Songgerüste erheben sich wie Zinnen in körniges Herbstdämmer, wenn das Orange einer nicht mehr wärmenden, untergehenden Sonne langsam verschwimmt und die knorrigen, blattlosen Bäume der Umgebung verblassen. Carlsens Welt ist tief in die atmosphärische Stimmung der Bilder seines Landsmannes Edvard Munch eingetaucht. Weniger in die exaltierte Intensität von "Der Schrei", mehr an "Der Sturm" und "Mädchen und drei Männerköpfe" orientiert. Wären Carlsens Songs Räumlichkeiten in einem Anwesen, würden Munchs Gemälde an den Wänden die Innenausstattung veredeln. In Punkto Melancholie kann sich die Goth-Subkultur eine Scheibe von dem Norweger abschneiden, denn "Clocks don't count" ist im unbestimmbaren Popgewand auch ohne Wave-Einflüsse mehr grufti als die frühen Sisters Of Mercy und Konsorten.
"A long and narrow hallway / Shining brightly in pale green": Es gilt, dem Gastgeber Carlsen durch schummerige Korridore zu folgen, wenn er in "Table for one" mit düsterem Männerchor und geisterhaften Backgroundvocals von Sängerin Unni Wilhelmsen zu Tisch bittet. Dass er in seiner zweiten Bauhütte nicht alleine weilt, verdankt er dem Erfolg seines Debüts "You go bird", mit dem er die Aufmerksamkeit der Cavanagh-Brüder von Anathema auf sich zog. Diese konnten Carlsen seiner samtverhangenen Dämmerwelt entlocken und als Gastvokalist für "Weather systems" gewinnen. Wie Anathemas Meisterwerk wurden auch Carlsens neue Baumaßnahmen von dem norwegischen Starproduzenten Christer-André Cederberg überwacht, der die "Search for balance / A search for control" des Sängers seit "You go bird" unterstützt. Die Suche entpuppte sich als "The dark side within", wie der Norweger im treibenden "Spirits in need" hervorhebt: "Come on madness and pain / Everything's been on hold." Cederberg verschafft der oft erstickenden Düsternis der Lieder aber einen Hauch von Weite, sodass auditive Klaustrophobie vermieden, stattdessen das totenbleiche Kerzenlicht in Carlsens Räumlichkeiten von etwas Abenddämmerung aufgelockert wird.
Irgendwo zwischen Placebos "Without you I'm nothing" und "Adore" der Smashing Pumpkins hallen Trompeten aus weiter Ferne durch "Even dead things feel your love", um Vincent Cavanaghs emotional gebrochener Stimme in "Built to last" Eintritt zu gewähren. Mit seinem Laut-Leise-Spiel klingt der Song nicht nur nach Anathema, sondern bildet zugleich den Höhepunkt der Hausbesichtigung, Carlsens Prunkzimmer sozusagen. In bedrückender Intensität lässt das in klassischer Instrumentierung gehaltene "The world can wait" mit Klavier und Violinen den schweren Brokatstoff der Fenstervorhänge wehen. "I'm at my best when I'm alone", gibt der Hausherr kund und zieht sich hinter das für seine Verhältnisse rockig anmutende "A simple reminder" zurück: "You're well aware the monster is you." Wem diese Adressierung gilt, bleibt Carlsens Geheimnis.
Das Instrumental "Cornerstone" wird mit dramatischen Steigerungseffekten zum zweiten Eckpfeiler von "Clocks don't count", um den Carlsen gebückt zu tanzen scheint. "Then this place was no longer home", singt er in "Home" und läutet mit den leisen Gitarren von "Waiting in the wings", die seine persönliche kleine Nachtmusik intonieren, den Abschied ein. Ebenso wie er sein Gastmahl mit flackernden Kerzen herrichtete, entlässt er den Hörer mit dem wunderschönen "Live to fight another day", einem Traum von Melancholie, und schließt die Tore seines Anwesens. Wie in Munchs Werken zählen auch bei Petter Carlsen keine Uhren, denn bei ihm herrscht Zeitlosigkeit. Seine Räumlichkeiten sind, wie er selbst sagen würde: "Built to last".
Highlights
- Table for one
- One of those days
- Built to last
- Cornerstone
- Home
Tracklist
- Table for one
- Spirits in need
- One of those days
- Even dead things feel your love
- Built to last
- The world can wait
- A simple reminder
- Cornerstone
- Home
- Waiting in the wings
- Live to fight another day (Bonustrack)
Gesamtspielzeit: 47:07 min.
Referenzen
Anathema; Gravenhurst; Klimt 1918; Placebo; The Gathering; Radiohead; Sigur Rós; My Bloody Valentine; Keith Caputo; The Smashing Pumpkins; The Unwinding Hours; The Cooper Temple Clause; Aereogramme; Kashmir; Ghinzu; Leaves; Mercury Rev; The Cure; dEUS; Doves; Arcade Fire; Aqualung; Coldplay; The Boxer Rebellion; Long Distance Calling