Gravenhurst - The ghost in daylight
Warp / Rough Trade
VÖ: 27.04.2012
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Immer mit der Unruhe
Das Böse schläft nie. Nick Talbot weiß das, geistern doch seit jeher unheilschwangere Bilder und Bewusstseinsströme durch seine Musik. Mal als dumpfe Ahnung, woher der durch die Türritze kriechende Qualm kommen könnte, mal als düstere Visionen einer Vergänglichkeit, die von Mord und Totschlag zuweilen noch beschleunigt wird. Lärmige Ausbrüche und dick aufgetragenes Feedback waren da oft allfällige Vehikel, um diesen latenten Schrecken in den vordergründig pittoresken Folk einzuführen, den Talbot nunmehr seit fünf Gravenhurst-Alben pflegt. Doch während "Fires in distant buildings" besorgt aus dem Fenster und "The Western lands" in die nebelverhangene Natur schaute, blickt "The ghost in daylight" vornehmlich nach innen - und macht auch mit dem letzten bisschen Krach weitestgehend Schluss.
Nicht jedoch mit dem, was Gravenhurst schon immer innewohnte: eine gespenstische Art von Groove, die mitnichten unbedingt auf die rabiaten Shoegaze-Griffwechsel aus "Hollow men" oder das kosmische Stakkato von "The velvet cell" angewiesen ist. Eine spitz gezupfte Akustikgitarre, die glasklar hypnotische Mantras malt, reicht vollkommen aus. Davon abgesehen haben diese Songs wenig zusätzlichen Zierat nötig. Allenfalls die innere Uhr des magischen Openers "Circadian" gerät dank giftig hineinfahrender Riffs schließlich aus dem Rhythmus, und die fantastische Single "The prize" lässt sich sogar mit einem Eimer sehnender Streicher übergießen. Doch ansonsten wird auf "The ghost in daylight" alles zur Gewissheit, was "The Western lands" bereits erahnen ließ: Talbot ist ganz bei sich.
Nicht immer das gemütlichste Plätzchen - aber immerhin eines, an dem er es sich und dem Hörer so bequem wie möglich macht. Etwa im strahlenden Folk-Stadtteilrundgang "Fitzrovia", der traumwandlerisch an bedeutungsschwangere Orte führt, aber stets von brenzligem Grundrauschen durchzogen ist. Auch "The ghost of Saint Paul" wiegt nur scheinbar in Sicherheit, während ein Metronom unbarmherzig die Lebenszeit wegtickt, und "Islands" versucht mit wühlendem Basslauf, elektronischen Drones am Ende des Horizonts und tonnenweise Hall auf der Stimme so etwas wie Dubstep auf links. Zumindest in diesem Rahmen der größtmögliche Kontrast zur hinreißenden Intimität der übrigen Songs und herzzerreißenden Sätzen wie "Ships sink like the hearts of the lonely when nobody cares". Ein bisschen Allegorie schadet nie.
Doch obwohl Talbot hier musikalisch Großes leistet und das prachtvolle "The foundry" erneut sein monströses Lieblingsmotiv vom in jedem Menschen schlummernden Killer heraufbeschwört, findet auf diesem Album alles auf wohltuende Art und Weise im Kleinen statt. Eine ausgezeichnete Platte voller meist stiller Introspektion, die weder für unsanfte Rocker noch für zuletzt gern genommene Coverversionen wie Fairport Conventions "Farewell, farewell" oder "See my friends" von den Kinks Platz lässt. Diejenigen, die gerade diesen Schattierungen von Gravenhurst besondere Bedeutung beimessen, mag das womöglich bedrücken - die Einschläge, die auf "The ghost in daylight" stetig näher kommen, sind jedoch weitaus bedrohlicherer Natur. Kein Grund zur Beruhigung.
Highlights
- Circadian
- The prize
- Fitzrovia
- The foundry
Tracklist
- Circadian
- The prize
- Fitzrovia
- In miniature
- Carousel
- Islands
- The foundry
- Peacock
- The ghost of Saint Paul
- Three fires
Gesamtspielzeit: 50:28 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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NOK Postings: 264 Registriert seit 04.10.2018 |
2022-05-14 15:52:44 Uhr
Der viel zu früh verstorbene Nick Talbot wäre heute 45 Jahre alt geworden, und ich höre gerade wieder "The Ghost in Daylight" und versuche zu erahnen, was er als Gravenhurst der Welt noch alles an Musik hätte schenken können. Ich erkenne in dieser Platte gar nicht den Qualitätsabfall, den manch eine(r) da anscheinend ausmacht, und finde es schade, dass es viele übersehen zu haben scheinen.Talbot ist ja damals im Rahmen einer Tour zum zehnten Jubiläum des Warp-Records-Fremdkörpers "Flashlight Seasons" unter nie genannten Umständen zu Tode gekommen, und damals spielte er auch in meiner Nähe, und ich bin aus idiotischen Gründen nicht hingegangen, obwohl ich ihn schon seit Veröffentlichung von "Black Holes in the Sand" gekannt und sehr geschätzt hatte. Eine Woche später war er tot - klassischer "Moment mal, WAS?!?"-Augenblick beim halbaufmerksamen Durchkämmen der Pitchfork-News. Grade dieses "The Foundry" - es gab zumindest in meinem musikalischen Kosmos wohl selten ein derart hinter- und abgründiges stilles Wasser über den Nationalsozialismus oder - generell - über das dem Menschen potenziell innewohnende Unheil, und ich würde der Rezension rechtgeben, die darin eine Fortführung des Motivs aus "The Velvet Cell" feststellt. Und "The Prize" mit DIESEM Ende könnte genaugenommen die paar Minuten länger dauern, um die man "Fitzrovia" hätte erleichtern können. So oder so aber ein wirklich hochklassiges Album. |
Herder Postings: 1836 Registriert seit 13.06.2013 |
2013-12-06 16:49:28 Uhr
Ja, ein tolles Album! Ich finds gar nicht so sperrig, es fehlen halt nur die sonst ja ab und an eingestreuten Uptempo-Nummern. Songs wie "The Prize" oder "Three Fires" sind wirklich grandios bzw. grandios-abgründig. |
VelvetCell Postings: 7604 Registriert seit 14.06.2013 |
2013-12-06 16:34:04 Uhr
... aber über "the Ghost in Daylight" wurde noch gar nicht gesprochen! Ist ja auch Nicks sperrigstes Album bis jetzt, welches sich auch mir spät erschlossen hat.9/10 |
Herder |
2013-03-01 00:12:08 Uhr
Ich wollte das ja auch beileibe nicht kritisieren (wir haben viel darüber gelacht, Proper-Sheppard dann irgendwann auch)! Das hat sich aber für mich so mit der Musik verbunden. Von wegen Knoblauch und so... |
Associazone negativa |
2013-02-28 23:54:29 Uhr
Aber irgendwie hat er damit doch Recht! Endlich mal einer der das ausspricht was die Mehrheit im Publikum denkt! Richtige Sophia-Ultras (mit schwarzen Kaputzenpullis) machen das nicht! |
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