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Grimes - Visions

Grimes- Visions

4AD / Beggars / Indigo
VÖ: 09.03.2012

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Der Offenbarungseid

Altkanzler und Dauerraucher Helmut Schmidt sagte einst, dass Menschen mit Visionen zum Arzt gehen sollten. Heißt das nun für Claire Boucher, besser unbekannt unter ihrem Pseudonym Grimes, dass sie sich besser gleich einweisen lassen sollte? Auch ohne medizinisches Fachwissen kann man jedenfalls festhalten: Die Kanadierin hat ein paar Schräublein locker. Fernab ihres extrovertierten Auftretens, versteht sich. Ihre Musik ist ideenreich und kunstvoll, versponnen und pulsierend. Die dritte Platte "Visions" ist oberflächlich betrachtet ein weiteres Electro-Album für Urban-Outfitters-Mädchen, in Wirklichkeit jedoch ist sie ein pathologischer Offenbarungseid. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der rudimentären Lyrics.

Die größte Leistung von Grimes ist das Knüpfen eines verdammt engmaschigen Netzes aus freakigem Electropop, Quasi-R'n'B und minimalen Goth-Anleihen. Effekthaschende Übertreibung ist ihr ein Gräuel, sodass vieles auf "Visions" eher angedeutet wird, schlussendlich aber herrlich unkonkret bleibt. Trotz dieser Ungezwungenheit sollte man "Visions" bewusst konsumieren, sollte man mit allen sieben Sinnen dabei sein. Hypnotisch tänzeln ihre Stücke auf einem Ouija-Brett, wirken beschwörend, zu keinem Zeitpunkt jedoch bedrohlich oder affektiert. Vielmehr wirkt Boucher wie ein kleines, unheimliches Mädchen, welches sich die Musiksammlung des Vaters unter den Nagel gerissen hat und sich nun nicht entscheiden kann, ob sie Lady Gaga oder Silver Apples besser finden soll. Das Gute ist: Niemand zwingt sie, sich zu entscheiden.

So kommt es, dass "Visions" eine fidele Platte ist, die unterschiedlichste Elemente zu einem homogenen Ganzen verschmilzt. Hier ein bißchen Zola-Jesus-Verhuschtheit, dort clubtaugliche La-Roux-Sperenzchen und obendrauf, quasi als Cocktailkirsche, die sensationelle Verträumtheit im Stil von JJ. Ihre Eigenständigkeit verliert Boucher indes nie, dafür klingen ihre kreativen Lieder zu emanzipiert und elaboriert. Pumpende Electro-Stücke wie "Genesis" oder "Oblivion" biedern sich nicht zu sehr an, halten die Balance aus Eingängigkeit und Freigeist. Dass auf diese beiden "Hits" mit "Eight" ein wahrlicher "coup de grâce" für alle verzweifelten Pop-Romantiker folgt, ist umso schöner. Als Hörer bekommt man hier nichts und doch irgendwie alles geschenkt. "Visions" funktioniert folglich wie ein Vexierbild, selten sind die Songs offensichtlich, ihre Absicht bleibt verschleiert.

Mit dieser Platte stellt sich Boucher also selbstbewusst in eine Reihe mit Künsterinnen wie beispielsweise Karin Dreijer Andersson a.k.a. Fever Ray, die dunkelschimmernden, süchtig machenden Pop in elektronischen Nebel hüllen. Der R'n'B durchweht nicht nur das großartige "Symphonia IX (My wait is u)". Tief blicken lassen auch das ätherische "Skin" oder "Nightmusic", welches mit seiner enormen Spannung elektrisiert. Treibende Beats bilden die Grundlage, darüber singt, murmelt und sinniert Boucher dann in beschwörender Art und Weise. Das Stück endet dann sakral, und irgendwie passt das ja auch. "Visions" ist ein kleines Meisterwerk, weil sich Grimes viel herausnimmt und keine Kompromisse eingeht. Ihr Pop funkelt nicht nach außen, er trägt sein diamantenes Wesen im Inneren: Extremely close, incredibly loud.

(Kevin Holtmann)

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Highlights

  • Oblivion
  • Symphonia IX (My wait is u)
  • Nightmusic
  • Skin

Tracklist

  1. Infinite love without fulfillment
  2. Genesis
  3. Oblivion
  4. Eight
  5. Circumambient
  6. Vowels = space and time
  7. Visiting statue
  8. Be a body
  9. Colour of moonlight (Antiochus)
  10. Symphonia IX (My wait is u)
  11. Nightmusic
  12. Skin
  13. Know the way

Gesamtspielzeit: 48:04 min.

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User Beitrag

Given To The Rising

Postings: 7679

Registriert seit 27.09.2019

2020-08-02 18:00:28 Uhr
Schon krass, wie die Wahrnehmung auseinandergeht. Die ätherischen Tracks Genesis und Oblivion berühren mich null, das können die Cocteau Twins 10x besser. Die schnellen Eight und Be A Body sowie das sentimentale Skin sind dagegen richtig gut.
prost neujahr
2012-12-31 18:14:04 Uhr
Welche der gefühlt 100 Frisuren von ihr im letzten Jahr meinst Du denn ? Für mich sowohl Platte als auch Künstler des Jahres.
klandestin
2012-12-21 02:16:07 Uhr
Phaon
25.03.2012 - 17:44 Uhr
Musikalisch durchaus gut, vor allem "Oblivion" und "Genesis". Ist halt so Elektro-Pop-Zeugs mit vielen schönen Synthie-Einfällen. Die Gesangsstimme geht allerdings überhaupt nicht. Das ist Ohrenkrebs in Reinform. Danach braucht man erst einmal drei Nick-Cave-Alben, um wieder zu wissen, wie eine normale Stimmlage klingt.


*Lachkrampf krieg*

Die Hipster-Frisur der Sängerin geht auch eigentlich überhaupt nicht.
Schurz in der S-Bahn
2012-03-28 20:34:18 Uhr
boah, lange hat mich ein Album nicht mehr so gepackt. Die Stimme finde ich eigentlich auch immer besser - oder anders gesagt - passender zu dem Sound.

Das groovt so herrlich, auf eine coole Art, nie aufdringlich, aber so absolut tanzbar.

Geilo....
Phaon
2012-03-25 20:31:48 Uhr
laß mich raten, Joanna Newsom findest du stimmlich auch daneben oder?

Joanna Newsom liebe ich, aber deren Stimme hat mit der von Claire nun wirklich nichts gemein. Bei Grimes gibt es nur diese hohe Piepsstimme, oftmals mehr geflüstert oder gehaucht, ohne jegliche Ausdruckskraft. Joannas Stimme ist hingegen sehr variabel, häufig mal kratzig, aber auch oft mit wunderschönen Mittellagen. Jedenfalls singt sie nicht kontinuierlich so hoch und piepsig, und ihre Stimme passt viel besser zur Musik. Wenn Claire Boucher irgendwann auch Songs wie "Only Skin" schreibt, können wir noch mal über sie reden, aber durch den starken Kontrast zu ihrer Musik empfinde ich die Stimme als unglaublich nervig.
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