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Nirvana - Nevermind (Super deluxe edition)

Nirvana- Nevermind (Super deluxe edition)

Sub Pop / Geffen / Universal
VÖ: 23.09.2011

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Erweckungserlebnisse

Es gibt Ereignisse, bei denen jeder sagen kann, wo, wann und wie er davon erfahren hat. Jede Generation hat so ein einschneidendes Erlebnis: Die 68er hatten ihre Mondlandung, die Siebziger hatten Elvis Presleys Tod, die Achtziger Tschernobyl und den Mauerfall, und die aktuelle Generation hatte 9/11 und Michael Jacksons Ableben. Und die Neunziger? Da war doch kaum etwas passiert, erklärten uns die Analysten gleich nach der Jahrtausendwende. Eine Wiedervereinigung, ein paar Kriege und immer wieder die Loveparade. Aber was wissen diese Analysten schon? Die waren schließlich nicht im besten Sturm-und-Drang-Alter, als ihnen unvermittelt die Ohren explodierten.

Als am 24. September 1991 eine räudige Punkband aus Seattle ihr zweites Album veröffentlichte, nahm kaum jemand davon Notiz. Doch jeder, der sich am Anfang der Neunziger ernsthaft mit Musik beschäftigte, stieß irgendwann auf dieses Album. Und jedem, dem Nirvanas "Nevermind" so völlig unvermutet Leib, Seele und Gehörgänge auf den Kopf stellte, weiß noch genau, wann und wo dies geschah. Bei mir war es eine Radiosendung kurz vor Jahresende '91. Ich hatte schon einiges von dieser abgerissen aussehenden Band aus Seattle gehört, die erstaunlich erfolgreich in den USA sei - nur ihre Musik nicht. Und dann kam dieser Moment: Ein Riff zickte herum, und nach drei Hieben auf eine Snaredrum brach die Hölle los. Für die vom Pop und Wave der Achtziger weichgespülten Ohren klang es, als würde mal eben mindestens das Studio einstürzen. Die Melodie war minimalistisches Nölen, der Sänger traf den Ton nur zufällig, und der Refrain war ein unerhörtes Gekeife über tumultösem Lärm. Das war abstoßend und faszinierend zugleich. Sofort wusste ich, dass es sich nur um Nirvana handeln konnte, und nach 5:01 Minuten gab mir der Moderator recht: "Smells like teen spirit". Mancher nahm das Album mit dem Baby, das einer Dollarnote hinterher tauchte, spontan wegen des Covers mit nach Hause und verliebte sich. Andere wurden von diesem Video angefixt, in dem die luschig aussehende Band mit anderen abgewrackten Gestalten eine Basketballhalle zerlegte. Das war fremd und frech und spiegelte die beklemmende Freiheit wider, die den Beginn der neunziger Jahre prägte.

Alles schien möglich, und aber man fühlte sich überfordert von all den Anforderungen und Möglichkeiten. Für einen unwahrscheinlichen Moment waren Fremdheit, Verweigerung und Selbstausgrenzung exakt das, was der Zeitgeist brauchte. Der Soundtrack dazu waren schmutziger Rock'n'Roll von leidenden Seelen und Punkrock-Singalongs, die den Arsch blau traten und das Herz zerquetschten. Kurt Cobains gebrochenes Inneres wurde in seinen wütenden Schreien genauso spürbar wie in den bitteren Melodien und zynischen Texten. "Nevermind" hatte ein derartiges Ausmaß an Intensität, dass Millionen von Hörern zum ersten Mal klar wurde, wie gut sich Ohrwürmer und dissonanter Krach verstehen können. Den Trick hatte Cobain zwar von den Pixies und Sonic Youth gelernt, aber erst "Nevermind" verpflanzte ihn ins weltweite Bewusstsein. So kam es, dass auf Partys, die man 1991 noch mit dieser Musik gesprengt hätte, dieses Album schon ein Jahr später in Endlosschleife lief. Aus Songs wie dem lästernden Singalong "In bloom", der auf ein durchdringendes "Yeah yeah" zutaumelnden Selbstaufgabe "Lithium", dem obskuren SM-Folk "Polly" oder dem unbarmherzig herunter geschrubbten Zweieinhalbminüter "Territorial pissings" wurden Hymnen einer ganzen Generation.

Man muss dabei gewesen sein, um nachvollziehen zu können, wie und warum "Nevermind" so ein Paradigmenwechsel werden konnte. Schließlich ist die einstige Rettung Alternative Rock längst zum Unwort verkommen, und im Rückblick verschwimmt gar die Abfolge der Geschehnisse. Mancher glaubt gar fälschlich, erst Cobains Tod hätte Nirvanas Erfolg zementiert. Man könnte falscher kaum liegen. Denn auch Nachgeborene können sich der Energie, der Intensität dieser dreizehn Songs nicht entziehen. Von der Überhymne "Smells like teen spirit" bis zum zertrümmerten Ende von "Endless, nameless" verströmen sie alle auch noch zwanzig Jahre später Cobains schonungslose Emotionalität. Seine Stimme besitzt die Dringlichkeit, jedes noch so schmerzhafte Gefühl zwischen Zorn und Depression nach Außen dringen zu lassen. Sei es durch desillusionierte Zeilen wie "I still smell her on you", durch den Spott aus "Territorial pissings" und durch die gezielte Zerstörung der eigenen Popsongs durch giftige Gitarrenspitzen. So zerschießt die Band nicht nur den ins Stocken geratenden Ohrwurm "Drain you", und die gequälte Zweistimmigkeit von Cobain und Dave Grohl geht immer wieder im satten Fuzz oder mit kreischenden Bendings unter.

Universal feiert nun das zwanzigste Jubiläum von "Nevermind" mit zahlreichen Neuauflagen: vom schlichten Remaster des Originalalbums über die "Deluxe edition" mit allen B-Seiten und diversen, bislang weitgehend unveröffentlichten Demoaufnahmen bis hin zur aufwendigen "Super deluxe edition", die aus vier CDs, einer DVD mit dem großartigen 1992er Halloween-Konzert aus dem Seattler Paramount, einem trashigen "Smash Hits"-Poster von 1991 und einem 90-seitigen Buch in LP-Größe besteht. Den größten dokumentarischen Wert hat natürlich diese üppigste Auflage. Hier kann die Entstehung des Albums in allen Schritten fast vollständig nachvollzogen werden. Da wäre der scheppernde Proberaummitschnitt namens "Boombox session", der klingt, als würde eine unkonzentrierte Coverband (mit allerdings unglaublichem Drummer) Klassiker wie "Smells like teen spirit" oder "Come as you are" zerstören. Cobain hatte seine endgültigen Texte noch längst nicht gefunden, und auch manche Songstruktur wurde später noch begradigt. Mithilfe von Sonic Youth und den dreckig, aber immerhin produzierten "Smart Studio sessions" erweckten Nirvana dann das Interesse von Geffen Records. "Breed", der Song über ungewollte Familiengründungen, hieß damals noch wie ein Durchfallmittel, und drei Songs landeten gar nicht auf dem fertigen Album.

Nur die "Super deluxe edition" enthält schließlich Butch Vigs originale "Devonshire mixes", die Geffen mit Ausnahme der auf "With the lights out" enthaltenen "Smells like teen spirit"-Variante bislang unter Verschluss hielt. Vigs Produktion klingt hier trockener, mittiger und längst nicht so komprimiert. Nirvana hatten dem Slayer- und The-Cult-Mischer Andy Wallace zu poppige Arbeit vorgeworfen, aber auch Vigs Mix ist von den präzisen Steve-Albini-Lärmstudien von "In utero" weit entfernt. Die beiden spannenden BBC-Sessions von "Drain you" und vor allem "Something in the way" zeigen jedoch, dass dies vornehmlich am geordneten Songmaterial lag, mit dem Nirvana ihre eigene Widerspenstigkeit gezähmt hatten, ohne die Slacker-Identität zu opfern. Es war herrlicher Lärm und unverschämter Pop zugleich. Dass die Musikindustrie später jeden ungewaschenen Mist auf Polycarbonat presste und das auch noch Nirvanas Erfolg in die Schuhe schob, ändert nichts an der Bedeutung dieses ewigen Meisterwerks. Epochal.

(Oliver Ding)

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Highlights

  • Come as you are
  • Lithium
  • Aneurysm
  • Been a son (live)
  • Dive (The Smart Studio session)
  • Something in the way (BBC session)
  • Smells like teen spirit (The Devonshire mix)
  • Stay away (The Devonshire mix)

Tracklist

  • CD 1
    1. Smells like teen spirit
    2. In bloom
    3. Come as you are
    4. Breed
    5. Lithium
    6. Polly
    7. Territorial pissings
    8. Drain you
    9. Lounge act
    10. Stay away
    11. On a plain
    12. Something in the way
    13. B-sides: Even in his youth
    14. Aneurysm
    15. Curmudgeon
    16. D-? (Live At The BBC)
    17. Been a son (live)
    18. School (live)
    19. Drain you (live)
    20. Sliver (live)
    21. Polly (live)
  • CD 2
    1. In bloom (The Smart Studio session)
    2. Immodium (Breed) (The Smart Studio session)
    3. Lithium (The Smart Studio session)
    4. Polly (The Smart Studio session)
    5. Pay to play (The Smart Studio session)
    6. Here she comes now (The Smart Studio session)
    7. Dive (The Smart Studio session)
    8. Sappy (The Smart Studio session)
    9. Smells like teen spirit (The Boombox rehearsal)
    10. Verse chorus verse (The Boombox rehearsal)
    11. Territorial pissings (The Boombox rehearsal)
    12. Lounge act (The Boombox rehearsal)
    13. Come as you are (The Boombox rehearsal)
    14. Old age (The Boombox rehearsal)
    15. Something in the way (The Boombox rehearsal)
    16. On a plain (The Boombox rehearsal)
    17. Drain you (BBC session)
    18. Something in the way (BBC session)
  • CD 3
    1. Smells like teen spirit (The Devonshire mix)
    2. In bloom (The Devonshire mix)
    3. Come as you are (The Devonshire mix)
    4. Breed (The Devonshire mix)
    5. Lithium (The Devonshire mix)
    6. Territorial pissings (The Devonshire mix)
    7. Drain you (The Devonshire mix)
    8. Lounge act (The Devonshire mix)
    9. Stay away (The Devonshire mix)
    10. On a plain (The Devonshire mix)
    11. Something in the way (The Devonshire mix)
  • CD 4
    1. Jesus doesn't want me for a sunbeam (live at The Paramount Theatre)
    2. Aneurysm (live at The Paramount Theatre)
    3. Drain you (live at The Paramount Theatre)
    4. School (live at The Paramount Theatre)
    5. Floyd the barber (live at The Paramount Theatre)
    6. Smells like teen spirit (live at The Paramount Theatre)
    7. About a girl (live at The Paramount Theatre)
    8. Polly (live at The Paramount Theatre)
    9. Breed (live at The Paramount Theatre)
    10. Sliver (live at The Paramount Theatre)
    11. Love buzz (live at The Paramount Theatre)
    12. Lithium (live at The Paramount Theatre)
    13. Been a son (live at The Paramount Theatre)
    14. Negative creep (live at The Paramount Theatre)
    15. On a plain (live at The Paramount Theatre)
    16. Blew (live at The Paramount Theatre)
    17. Rape me (live at The Paramount Theatre)
    18. Territorial pissings (live at The Paramount Theatre)
    19. Endless, nameless (live at The Paramount Theatre)
    20. DVD: Jesus doesn't want me for a sunbeam (live at The Paramount Theatre)
    21. Aneurysm (live at The Paramount Theatre)
    22. Drain you (live at The Paramount Theatre)
    23. School (live at The Paramount Theatre)
    24. Floyd the barber (live at The Paramount Theatre)
    25. Smells like teen spirit (live at The Paramount Theatre)
    26. About a girl (live at The Paramount Theatre)
    27. Polly (live at The Paramount Theatre)
    28. Breed (live at The Paramount Theatre)
    29. Sliver (live at The Paramount Theatre)
    30. Love buzz (live at The Paramount Theatre)
    31. Lithium (live at The Paramount Theatre)
    32. Been a son (live at The Paramount Theatre)
    33. Negative creep (live at The Paramount Theatre)
    34. On a plain (live at The Paramount Theatre)
    35. Blew (live at The Paramount Theatre)
    36. Rape me (live at The Paramount Theatre)
    37. Territorial pissings (live at The Paramount Theatre)
    38. Endless, nameless (live at The Paramount Theatre)
    39. Smells like teen spirit (Music video)
    40. Come as you are (Music video)
    41. Lithium (Music video)
    42. In bloom (Music video)

Gesamtspielzeit: 342:58 min.

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