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Joe Henry - Reverie

Joe Henry- Reverie

Anti / Epitaph / Indigo
VÖ: 07.10.2011

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Zarte Zeiten

Seit Jahr und Tag macht Joe Henry Musik für all jene, die die Situation zwar ständig verpassen, dafür aber noch Stunden später derart über den Treppenwitz lachen können, dass die schwarzen Gedanken in einem Meer aus Freudentränen gleich mit absaufen. Oder auch für jene, die Folk schon immer für Altherren-Jazz gehalten haben, allein deshalb aber bestimmt keine grauen Haare bekommen. Und die auch die Sorgenfalten irgendwann vergessen - denn dafür hat man schließlich seine Band. Wer, wie Zwar-Madonna-Schwager, vor allem aber Genie-von-eigenen-Gnaden Joe Henry, vor Jahrzehnten ausgerechnet eine der drei Ciccone-Schwestern ohne Burggraben geehelicht hat, für den wird all das zu dem Sand, mit dem er seine Songschlösser baut. Ein Gefährte allererster Güte - und das mit "Reverie" bereits zum zwölften Mal.

Was nach wie vor stimmt: Wenn Henry in Geberlaune ist, so vernimmt man in seinen Arrangements nicht nur Genres, sondern ganze Musikdekaden beim zartbesaiteten Vergehen. Was neu, aber formidabel zu hören ist: "Reverie" bringt Henrys ausnehmend elaborierten und treffsicher produzierten Folk derart auf den Punkt, dass der Hörer nicht mehr weiß, was hier eine Feder und was bereits ein Handschuh ist - weil eben auch die Instrumente wie hingeworfenes Klimpergeld klingen, zugleich aber ganz sanft zu Boden gleiten.

Gleich im Opener tapsen die 50ies überaus schwindsüchtig, hintergründig und listig über die Klaviertasten. Und auch sonst wehen der allgegenwärtige Jazz, der Folk, der Soul sowie die eine oder andere Pop-Linie eher wie leichte Luftzüge durch die Songs: Nichts kann sie aufhalten, wenn sie still und leise durch die während der Aufnahmen stets geöffneten Fensterläden hereinwehen - aber nichts kann sie auch zum Bleiben bewegen. So diffundiert nicht nur Henrys Musik in die musikalische Vergangenheit. Vielmehr verschwimmt diese selbst beständig zu einem bald zeitlosen, bald für Sekunden datierbaren Zeitstrom. Hier ist alles in Bewegung, weil nichts zu einem herrischen Blick ausgeweitet wird.

Zugleich gelingt es Henry, seine Stimme ebenfalls nicht als Diktator festzuschreiben. Denn auch sie gerät in Bewegung, obgleich sie einzigartig bleibt. "Dark tears" und "Deathbed version" schwingen zwischen typischem Näseln und leichtem Kratzen, besingen den Blues jedoch mit R&B-Phrasierungen. Zudem lassen sie sich auch von Gastgitarrist Marc Ribot kaum aus der Ruhe bringen und branden doch aufgewühlt durch die Songs. Bei "Piano furnace" und im Walzer-Takt von "Strung" geben Schlagzeug und Bass die bösen Buben, poltern, rumpeln und wummsen wie eigentlich überall auf "Reverie". Genau dadurch schütteln sie aber auch die gesamten Arrangements luftig auf, sodass Klavierläufe oder der rührende Backgroundgesang von Lisa Hannigan (lange Zeit vor allem bekannt als Damien Rices Sidekick, inzwischen aber mehr als emanzipiert) dazwischenperlen können. Man muss schon sagen: Eingespielt in gerade einmal drei Tagen, ist die instrumentale Dichte von "Reverie" ein Fall für die Soko Schizfühl: zugleich vom Leichtesten und Intensivsten, was man sich nur vorstellen kann.

Denn hier wird ständig im Suit-Up-Rhythmus geschwoft, ohne auch nur einen Zeh zu bewegen. Es wird das Whiskey-Glas mit zittrigen Fingern umklammert, die Stirn jedoch küsst nicht den Tresen, sondern blickt vorwitzig durch die Gedankenwelt aller anderen. Die Gespräche in der Bar verstummen, man hört gebannt, sagt dadurch aber alles. Und Stunden stehen still, damit sie genau hier wühlen und dabei innehalten können. "Reverie" formt all das zu einem mit feinem Strich und lebendigen Farben gemalten Phantasiegebilde - und zeigt damit auf die einzig mögliche Existenz, die Zeit überhaupt erfahren kann: "Nothing is now as it appears / There's no law speaks to that / Just an ocean's roar between my ears / And down here deep inside my hat", singt Henry in seiner herzzerreißenden Hommage an Odetta Holmes. Hut ab: Die Gesetze der Zeit sind Wachs in diesen Händen.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights

  • Heaven's escape
  • Odetta
  • Strung
  • Piano furnace
  • Eyes out for you

Tracklist

  1. Heaven's escape
  2. Odetta
  3. After the war
  4. Sticks & stones
  5. Grand Street
  6. Dark tears
  7. Strung
  8. Tomorrow is October
  9. Piano furnace
  10. Deathbed version
  11. Room at Arles
  12. Eyes out for you
  13. Unspeakable
  14. The world and all I know

Gesamtspielzeit: 61:39 min.

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