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Björk - Biophilia

Björk- Biophilia

One Little Indian / Polydor / Universal
VÖ: 07.10.2011

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 5/10

Ein Apple und ein Ei

Dort, wo sich Genie und Wahnsinn gegenseitig eine geruhsame Nacht wünschen, ist Björk zuhause. In der Vergangenheit hat sie sich aus Spinnennetzen, giftigem Efeu und verbrannten Kabeln ein verspultes Königinnenreich zusammengestöpselt. Wer 2011 immer noch den ewiggleichen Elfen-Mist propagiert, hat nie richtig hingehört. Diese Frau ist doch längst diesem Kokon entschlüpft. Was Björk in ihrer Einzigartigkeit indes immer und über alle Zeiten hinweg auszeichnete, war ihre Fähigkeit, wackelige Brücken zwischen dem Vorgestern und dem Übermorgen zu bauen: Stets klangen ihre Alben naturverbunden, und doch lieferten sie einen beinahe bedrohlichen Blick in die Zukunft. Auch ihr mittlerweile achtes Studio-Album baut auf dieser Dichotomie von Natur und Technik auf. Während der Albumtitel also die Liebe zu Mutter Erde deklariert, überlegt sich Björk im Hintergrund ein kaum zu überblickendes iPad-Konzept. So wird es zu jedem Song eine App geben, über die der Nutzer mit den Stücken "interagieren" kann. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, eigene Versionen von den zehn Stücken zu basteln. Wer also ein iPad besitzt und gerne semiprofessionelle Remixe bastelt, darf sich hier angesprochen fühlen.

Doch vor allem wird in den entsprechenden Apps auf naturwissenschaftliche Phänomene eingegangen. Egal ob Mondzyklen oder parasitäre Lebewesen: Alles, was einem sonst Ranga Yogeshwar in bedeutungsschwangeren Sätzen erklärt, bekommt hier ein multimediales Gesicht. Natürlich ist das revolutionär, doch versperrt es etwas den Blick auf das, was den Musikhörer primär interessiert: die Songs. Dabei bieten die zehn Stücke von "Biophilia" durchaus einiges Diskussionspotenzial. Da wäre der Opener "Moon", der zunächst newsomesk losklimpert, während Björk mit zitternder und exaltierter Stimme somnambule Verse anstimmt. Das bereits vorab veröffentlichte und nebenbei mit einem wunderbaren Michel-Gondry-Video gewürdigte "Crystalline" ist zweifelsohne einer der besten Björk-Tracks der jüngeren Geschichte. Zunächst bahnt sich Björk ihren Weg durch stetes Glockenspiel, bevor einsame Beats den Wegesrand säumen. Es zischt und rauscht, und Björk rollt das "R", wie es sonst nur Till Lindemann und schlechte Hitler-Imitatoren tun. Später, nach etwa drei Minuten, bricht das reinste Autechre-Feuerwerk über den Hörer hinein, auf brutalste Weise werden dem Song die Flügel zurechtgestutzt. Zur Erholung schiebt Frau Guðmundsdóttir mit "Cosmogony" eine schöne Quasi-Ballade nach: "Heaven, heaven's bodies whirl around me / Make me wonder / And they say back then our universe was a cold black egg."

Viele Stimmen, die sich bislang zur Musik des Albums äußerten, sahen darin keinen sonderlich großen Wurf. Immer wieder wird das achte Werk der Isländerin als "anstrengend" etikettiert, was natürlich Schwachsinn ist. Klar, die Idee Wahnsinn, die muss mit. Wir reden hier schließlich von Björk. Mit den beiden Nicht-Songs "Dark matter" und "Hollow" bleibt sie sich folglich selbst treu, auch wenn der Albumfluss etwas ins Stocken gerät. Versöhnlicher ist hingegen das zärtliche "Virus", das in seiner Melodieführung kurz bei Kurt Weill vorbeischaut: "Like a virus needs a body / As soft tissue feeds on blood / Someday I'll find you / The urge is here." Dazu schwebt Björks Stimme in der Luft und lässt das Stück sogar wirken wie ein Gute-Nacht-Lied. Einen Song später entzündet Björk die Elektronik, "Sacrifice" wird niedergebrannt, übrig bleiben lediglich zuckende Beats. Das von Orgeln geleitete "Mutual core" klingt hingegen unheimlich und warm zugleich, ein Widerspruch, den Björk nicht gelten lässt. Sie bestimmt die Regeln in diesem Spiel. Nur wenn man sich darauf einlässt, findet man den Goldtopf am Ende des schimmernden Doppelregenbogens. "Biophilia" ist ein weiteres Wunderwerk, wenn auch kein durchweg meisterhaftes. Dennoch: Diese Frau ist der Zeit voraus, ist Visionärin und vergisst darüber nicht ihre Wurzeln. Sie ist Baum und iPad zugleich. Ihre Zweige sind wie Kabel, ihre Musik ist unsere Photosynthese. Appsolut unfassbar.

(Kevin Holtmann)

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Highlights

  • Crystalline
  • Cosmogony
  • Virus

Tracklist

  1. Moon
  2. Thunderbolt
  3. Crystalline
  4. Cosmonogy
  5. Dark matter
  6. Hollow
  7. Virus
  8. Sacrifice
  9. Mutual core
  10. Solstice

Gesamtspielzeit: 49:33 min.

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User Beitrag

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31659

Registriert seit 07.06.2013

2020-11-08 02:33:43 Uhr
Nee, muss ich auch nicht. Solltest du auch wissen. :) Aber trotzdem kriegt es mich nicht. Bei "Vulnicura" kann ich auch bis auf den Opener nichts mitsummen, aber ich kann mich drin verlieren. Hier eben leider nicht.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19947

Registriert seit 10.09.2013

2020-11-08 00:55:16 Uhr
"Mutual core" ist der absolute Wahnsinn, einer ihrer besten Tracks. Ansonsten hat das Album ein bisschen gebraucht, ist aber angekommen. Kein Top-Album von ihr, das wären das Post/Homogenic/Vespertine-Triple + Vulnicura, aber dahinter auf einem hohen Niveau mit Medulla und Utopia. Introvertiert ja, was aber nichts schlechtes ist, aber ein sehr plastisches und einfach wunderschönes Album.
Nein, es hat keine Melodien, die hängen bleiben, und kein Songwriting im pop-konventionellen Sinne des Wortes, aber das braucht gute Musik auch nicht. Für mich zählt die Intensität der Hörerfahrung an sich und was von dieser Stimmung, diesem Gefühl nachhallt und reproduzierbar ist. Ich muss nach dem Hören keine Melodien mitsummen können.

Watchful_Eye

User

Postings: 2773

Registriert seit 13.06.2013

2020-11-07 21:56:46 Uhr
Oh okay, man steht damit aber eigentlich wirklich ziemlich alleine. :)

Ich merke auch gerade, dass meine Formulierung "nach Vespertine ihre beste" doppeldeutig ist. Es ist nicht mein Zweitlieblingsalbum von ihr - das ist wahrscheinlich "Post". Ich meinte es im Sinne von "bis Heute ihr bestes Album seit Verspertine".

Das Remix-Album ist generell klasse, das brauche ich noch auf CD. Ich hab es bisher nur über Spotify gehört, aber im Grunde trifft das fast alles ins Schwarze.

Oceantoolhead

Postings: 2278

Registriert seit 22.09.2014

2020-11-07 21:54:21 Uhr
„Ich find da kaum Melodien.“

Das gilt doch für alle Post 90er Alben von ihr. Jegliches Songwriting fürs (zugegeben zu meist ziemlich innovative) Sounddesign geopfert. Mit Ausnahme von 1-2 Tracks pro Album.

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31659

Registriert seit 07.06.2013

2020-11-07 21:49:09 Uhr
mariobava über mir sieht das eigentlich wie du. :)

"Mutual core" ist echt klasse, auf Album und noch mehr im Rework.
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