The Low Anthem - Oh my God, Charlie Darwin
Bella Union / Cooperative / Universal
VÖ: 28.08.2009
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
Die Hoffnungsträger
Nur ein Narr macht keine Experimente. Behauptete Charles Darwin. Eines seiner wichtigsten war die Heirat mit seiner Cousine Emma - er hatte gut selektiert, denn die Mitgift der Gattin ermöglichte ein Leben als Privatier. Nachdem wir bereits so intime Details über den britischen Naturforscher wissen, sei es uns gestattet, ihn kumpelhaft "Charlie" zu nennen. The Low Anthem dürfen das ja auch. Obwohl die musikalische Experimentierfreude des Trios aus Providence nicht ganz so ausgeprägt ist, wie ihr großartiges Gespür für Melodien. Sie machen jedenfalls nichts, was sich nicht unter dem Überbegriff "Americana" zusammenfassen ließe - wobei man der omnipräsenten Klarinette durchaus einen gewissen Exotenstatus zugestehen muss. Noch interessanter ist allerdings die verblüffende Wandelbarkeit von Ben Knox Millers Stimme, die er gleich in den ersten drei Songs beweist: von betörendem Falsett über sanftes Naturburschen-Timbre bis hin zum fröhlich reibeisernen Stimmbandexzess. Oh my God!
Das Prinzip der natürlichen Selektion haben Ben Knox Miller, Jeff Prystowsky und Jocie Adams so verinnerlicht, dass sie auf dem Gelände des renommierten Newport Folk Festivals freiwillig Natur von Müll trennten. Und dabei so geschickt Demo-CDs verteilten, dass sie ein Jahr später selbst auf der Bühne standen und spielend das Publikum einten, in Begeisterung natürlich. Die Euphoriewelle reichte bis nach New Jersey, wo Bruce Springsteen auf der Stelle beschloss, dass er The Low Anthem unbedingt treffen müsse. Die Auswirkungen dieser Zusammenkunft sind nicht bekannt, wohl aber der Versuchsaufbau für "Oh my God, Charlie Darwin", das dritte Album der Band: Zehn Wintertage lang schlossen sie sich ein in einer Hütte auf Block Island, einer beschaulichen Insel im Süden ihres Heimat-Bundesstaates Rhode Island, und nahmen ein Dutzend Songs auf. Wenig Schlaf, viel Bourbon, 27 Instrumente und unzählige Live-Takes mündeten schließlich in eine der liebenswertesten Platten des Jahres.
The Low Anthem haben Mitgefühl - für die Schwachen und Glücklosen, für die Verdrängten und Besiegten, für die Enttäuschten und trotz allem noch nicht Desillusionierten: "Cast your reckless dreams upon our Mayflower / Haven from the world and her decay", singt Miller im Opener "Charlie Darwin" zur tapferen Akustikgitarre. Manchmal hilft die Verniedlichungsform, um den Gesetzen der Natur ihren Schrecken zu nehmen. Wenn auch nicht lange, denn nur einen Windstoß später muss Kapitän Miller erkennen. "Oh my God / The water's all around us" - umspült von einem mehrstimmigen pastoralen Chor, der klingt, als ob jetzt nur noch beten helfen könnte. Trotz dieser widrigen Umstände bewahrt "Charlie Darwin" die besonnene Ruhe eines Seelsorgers, das offizielle Motto des Bundesstaates Rhode Island lautet nicht umsonst: Hope.
Mit der Wanderklampfe geht es direkt "To Ohio", und obwohl die verlorene Liebe überall, wo Miller hinkommt, schon auf ihn wartet, ist da wieder dieses unglaublich Ruhige, Gefasste. Musik, die mit dem schönen Wort "einlullen" mindestens wahlverwandt ist - bis zum dritten Song: Ein nicht wieder zu erkennender Miller röhrt zu stampfendem Schlagzeug, Banjo und Mundharmonika den verwegenen Kneipenschunkler "The horizon is a beltway" und hängt noch die Coverversion "Home I'll never be" dran, im Original ein von Tom Waits vertonter Jack-Kerouac-Text. Ähnlich zünftig geht's danach nur noch bei der Folkrock-Eskapade "Champion angel" zu, der Rest fällt wesentlich ruhiger aus. Insbesondere das fragile, beinahe geflüsterte "Ticket taker" und die hingebungsvolle Handreichung "(Don't) Tremble", die gleichzeitig Liebe und Waffenstillstand erklärt. "OMGCD" zaubert kurz vor Schluss genau die zwei Minuten Lagerfeuerromantik, die diesem Album noch gefehlt haben. Und dann ist man angekommen - am Ende der Einsamkeit, im Frühling nach dem Winter und bei der Erkenntnis: The Low Anthem sind wirklich drei Engel. Nicht nur für Charlie.
Highlights
- Charlie Darwin
- To Ohio
- The horizon is a beltway
- (Don't) Tremble
Tracklist
- Charlie Darwin
- To Ohio
- The horizon is a beltway
- Home I'll never be
- Ticket taker
- To the ghosts who write history books
- (Don't) Tremble
- Music box
- Champion angel
- Cage the songbird
- OMGCD
- To Ohio (Reprise)
Gesamtspielzeit: 42:25 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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VelvetCell Postings: 7803 Registriert seit 14.06.2013 |
2021-12-12 21:22:09 Uhr
Habe das Album endlich auf Vinyl und höre mit Genuss. Schade, dass die Band in dem Hype von damals etwas unterging. Andererseits hätten sie es ohne Mumford/Fleet Foxes-Rückenwind wohl nie so weit gebracht.Dabei ist die Platte so viel räudiger als die vorgenannten. Und deren Konzert in den Haldern Pop Bar damals, gehört zu den besten Liveereignissen in meinem an Liveereignissen reichen leben. Give it another rotation! |
seno |
2010-10-12 18:12:00 Uhr
Dieser neue Song gefällt mir schonmal sehr gut:Blind leads the blind |
seno |
2010-09-26 15:48:25 Uhr
@Diederwichser oder so ähnlich:Denkst du dir den zusammenhanglosen Scheiß eigentlich selber aus oder hast du dafür nen Generator laufen? |
langweiloig |
2010-09-26 00:57:17 Uhr
belanglos |
sehi |
2010-09-26 00:55:45 Uhr
Ahaaa. |
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Referenzen
Fleet Foxes; J. Tillman; Mumford & Sons; Crosby, Stills, Nash & Young; Neil Young; The Band; Monsters Of Folk; Bon Iver; The Felice Brothers; Iron & Wine; Bowerbirds; My Morning Jacket; Bob Dylan; Jakob Dylan; The Mohawk Lodge; Band Of Horses; Lucky Jim; Tom Waits; Leonard Cohen; Bonnie 'Prince' Billy; Phosphorescent; Gram Parsons; Joni Mitchell; Sufjan Stevens; Sparklehorse; Death Vessel; Great Lake Swimmers; Red House Painters; Grant Lee Buffalo; Micah P. Hinson; Bill Callahan; Gus Black; Nick Drake; M. Ward; Simon & Garfunkel; Vetiver; James Taylor; America
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