Nina Nastasia & Jim White - You follow me

Fat Cat / PIAS / Rough Trade
VÖ: 01.06.2007
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

Vertrauen ist alles
Einem klassischen Orchester bei der sinfonischen Aufgabenverarbeitung zuzuschauen, ist beizeiten aufwühlend und verwirrend. Ein schlechter Tag, trotz gestärkter Persönlichkeitsstruktur, kostet bei komponierter und gespielter Raffinesse die emotionale Ozonschicht. Wie eine gespaltene Auster, die mit einer glänzenden, verletzlichen und griffbereiten Perle ihr Inneres zwangsweise offenbart. Schonungs- und schutzlos wird man den Feinheiten erliegen, die so scharf und klar sind, dass man sie kaum zu fassen bekommt. Verzweifelt sucht man in der Gegenstandslosigkeit nach einem Körper, der einem Halt schenkt. Die Suche nach Vertrautem wie berstenden Gitarren, die mit ihrer minimalen Akkordarbeit greifbar nahe sind, bleibt erfolglos. Ineinander verwobene Partituren, avantgardistische Satzbildung, ekstatisches Dirigentenwerk. Die klangliche Vielfalt drängt zur Entscheidung: Hingabe oder Kopfschütteln, Entkrampfung oder pubertäre Abwiegelung.
Nina Nastasia und Jim White zucken mit den Schultern. Aus dem Augenwinkel steht ihr neugeschaffenes Bündnis weit entfernt von solch instrumentaler Dichte. Die Idee gemeinsamer Aufnahmen hatte Jim White bei der letztjährigen Mitarbeit an Nastasias viertem Album "On leaving", das sich erstmals nach einer Phase depressiver Gesinnung optimistischeren Grundtönen zugewandt hatte. Das für ihn inspirierende Engagement wollte der australische Drummer der Experimentalisten von Dirty Three (und allseits beliebter Gasttrommler der individualistischen Folkszene) noch weiter ausbauen. War vormals nur eine kleine Songsammlung angedacht, entstand mit "You follow me" nicht nur ein vollständiges Album innerhalb kürzester Zeit, sondern eine meisterhafte Schöpfung zwischen Lied- und Sangeskunst und improvisatorischem Rausch. Das Wagnis, zwei starke Persönlichkeiten auf engstem Raum agieren zu lassen, mit der Befürchtung einer unverträglichen Egomanie gepaart, fällt schnell und mit aller Härte unter den Tisch.
"I've been out walking" startet den Reigen der zehn kurzen Songs, die sich stark an folkloristischen Strukturen orientieren. Nackt und direkt offenbaren Nastasia und White ihre enge Beziehung zueinander und gehen gemeinsam den unsicher wirkenden Weg, sind verhalten in ihren Aktionen. "I was unaware of darkness an unaware of signs / I was unware of loneliness / Startled from a noise." Nastasia ist gefasst, sachlich und direkt. Der Rhythmus schwingt um. "I ran and ran but soon felt weak." Panisch, unheilvoll, verstört erwachen die Protagonisten aus ihrer Lethargie und treten kraftvoll dem plötzlichen Ende entgegen. Atmosphärisch düster setzt "I write down lists" diesen Weg fort. White unterbricht die Marschrichtung von satten Schlägen, streichelt beseelt die Becken, trommelt behutsam, wissend um die gemeinsame Linderung. Nastasia ergibt sich flüsternd, bricht aber im Fortlauf mit ungewohnt lauter Stimme aus ihrem überengen Korsett. Warme Farben verbünden sich in "Odd said the doe". Freiheitlicher Jazz schließt sich in "Our discussion" mit wohlgeformter Singer/Songwriterkunst kurz. "Late night" verfällt in unbezähmbare Wut und Verzweiflung. Die Gewalten beben und der Wall ist gebrochen. Was folgt ist ein berauschter Absturz mit Feingefühl.
Die von Steve Albini perfekt in Szene gesetzte, spröde Energie von "You follow me" steht weit entfernt von Zwei-Kopf-Bands, die sich ebenfalls eines Bassisten entledigt haben. Nastasia und White revolutionieren das ruppig Gleichförmige eines minimalen Aufgebots. Sie übertrumpfen die Stümper, die freiheitliche Bewegungen dazu ausnutzen ihr Nichtkönnen als Experiment und versierte Tollkühnheit zu verkaufen. Da wo hirnfreie Lautstärke aufhört und konzeptuelle Schönheit mit destruktiven, frei gestalteten Elementen anfängt, beginnen Nina und Jim zu atmen. Ich folge Dir, Du folgst mir. "You follow me" ist ein Monstrum an Vertrauen. Mit Wissen darum, dass der andere wiederkommt, sei er noch so weit entfernt. Sie bauen aufeinander auf, stehen nebeneinander, tauschen die Rollen mehrmals. Sie schicken sich gegenseitig in die Wüste, mahnen mit harten Tönen das ungehaltene Gegenüber zur Zurückhaltung. Harmonie und rhythmische Vertracktheit verbünden sich, komponierte Melodienfragmente weichen in sprachloser Absprache unbändiger Improvisation. Nastasia und White schaffen minimalistische Sinfonien, kleinstmögliche ineinander verwobene Partituren und subtil und ekstatisch getrommelte avantgardistische Satzbildung. "I come after you" beschließt das Konzept. Unbeschreiblich schön. Ein Kloß im Hals, eine Träne im Auge. Hingabe und Entkrampfung.
Highlights
- Our discussion
- Late night
- How will you love me
- I come after you
Tracklist
- I've been out walking
- I write down lists
- Odd said the doe
- The day I would bury you
- Our discussion
- In the evening
- There is no train
- Late night
- How will you leave me
- I come after you
Gesamtspielzeit: 31:24 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Shyntaru |
2012-12-07 19:39:07 Uhr
So Thread-Nekrophilie :)Nach all der Zeit, wieder rausgeholt und muss ganz klar sagen: Wohl eine der besten Platten in meinem Schrank. Bin seit dem Album wohl nicht mehr auf diese Weise überrannt bzw. vor allem überrascht worden! Für mich ein kleines Meisterwerk, welches es wohl so kaum noch gibt! 10/10 PUNKT! |
Senior Twilight Stock Replacer |
2009-10-02 22:02:58 Uhr
Man ist geneigt den 9/10 zuzustimmen! |
Senior Twilight Stock Replacer |
2009-03-17 16:05:53 Uhr
Wie kann man denn die Trommeln überflüssig finden? Lege die Scheibe vornehmlich deswegen auf. |
Humpty Dumpty |
2008-01-26 02:34:57 Uhr
So, erstmal: Finger weg von Nina!Dann: A 7-inch single, titled "What She Doesn't Know" will be released on February 25, 2008. The single will feature the title track, along with the song "Red Nose". Both tracks were recorded by Steve Albini during the On Leaving sessions. Nastasia has called the single "a good complement to You Follow Me". [1] A solo American and European tour will coincide with the release of the single. Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Nina_Nastasia Dann: Jim White wird auf dieser Tour, soweit ich weiß, nicht dabei sein. Dann: Ich hab Offenburg mit Offenbach verwechselt. Das macht in meinem Fall gute 250km mehr. Ächz. Aber was tut man nicht alle für sie!? |
rothausmaler |
2008-01-22 23:32:01 Uhr
argh, warum kein westdeutschland? |
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Referenzen
Cynthia Dall; Papa M; Dirty Three; The Tren Brothers; Cat Power; Liz Phair; Mick Turner; Smog; Palace Brothers; Will Oldham; Bonnie 'Prince' Billy; Alasdair Roberts; Haley Bonar; Lullaby For The Working Class; The Baptist Generals; Shannon Wright; Iron And Wine; Fiona Apple; Sol Seppy; Red House Painters; White Magic; Devics; Shannon Wright; Mirah; PJ Harvey; Scout Niblett; Rose Kemp; Young People; Victory At Sea; Royal City; Hayden; Jason Anderson; James Raynard; Nick Drake; Bert Jansch; Elliott Smith; The Handsome Family; Johnny Dowd; Penguin Cafe Orchestra; Chicago Underground Duo; Gastr Del Sol; The Sea And Cake; Woven Hand; Songs:Ohia; Souled American; Scott Tuma; The Mountain Goats; Neko Case; The Horseflies
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- Nina Nastasia & Jim White - You follow me (75 Beiträge / Letzter am 07.12.2012 - 19:39 Uhr)