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The National - Boxer

The National- Boxer

Beggars Banquet / Indigo
VÖ: 18.05.2007

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Edelschokolade

Die Erleuchtung kam spät. Nachts, hinter dem Steuer, auf der Straße. Die Scheibenwischer mühten sich nach Kräften, den hernieder prasselnden Regen aus dem Sichtfeld zu schieben. Es waren noch gut einhundert Kilometer Fahrtstrecke zu überwinden. Warum also nicht einer Platte die Chance geben, die monatelang ein staubiges Schattendasein im Regal geführt hatte. Zu beiläufig waren die Songs vorbei geglitten, zu unverbunden erschienen die genuschelten Melodien mit dem Bandgewebe. Nicht ungefällig, aber ein wenig plätschernd. Allein in der feuchten Dunkelheit erschien The Nationals "Alligator" aber plötzlich völlig anders. Nichts war mehr beliebig, vielmehr griff ein Rad ins andere. Alles passte zusammen, und zum ersten Mal öffnete sich das Album in seiner dunklen Schönheit, als Album wie aus einem Guss trotz vielfältiger Facetten. Ein Meisterwerk, das auf Grund seiner Unauffälligkeit lange Zeit nicht verstanden und beinahe verkannt wurde.

Das gleiche Missverständnis droht auch bei "Boxer", der neuen Scheibe der Amerikaner. Die Songs sind noch ein Stück enger zusammen gerückt, bleiben dichter beieinander, brauchen und nehmen sich indes sogar noch ein wenig mehr Zeit, um zu wirken. Über weite Strecken haben The National den Schritt noch dezent verlangsamt und die wüsteren Extreme diesmal weitgehend ausgelassen. Energisch vorwärts preschende, glutbefeuerte Songs wie "Abel" finden sich auf "Boxer" nicht. Auch Matt Berningers brummelnder Bariton bricht diesmal nicht aus, um plötzlich zu keifen und schreien. Doch bedeutet dieses Fehlen keinen Verlust. Die Songs auf "Boxer" sind ausgeschlafene Spaziergänger. Unmerklich, fast beiläufig brennen sich die Mikro-Epen ein, bleiben zunächst beinahe unverschämt unscheinbar und unaufdringlich, entwickeln sich ganz allmählich, ohne Hast, um mit der Zeit auf wundersame Weise immer tiefere Schichten offen zu legen. Selbstversunken und doch lebendig und dynamisch, ohne an irgendeiner Stelle träge zu werden oder zu erlahmen. Bitterschöne Geschichten von Enttäuschungen, Entfremdung, Einsamkeit und bitteren Streits in Einzelzimmern, während die Stadt unten unbeirrt weiterrauscht.

Doch selbst wenn "Boxer" ausgeglichener wirkt und von einer tiefen inneren Ruhe durchströmt ist, bleibt genügend Raum für vielfältige Facetten und fein austarierte Spannungsbögen. Über hauchdünnen Obertönen aus dem Jenseits und sanft synkopierten Klavierakkorden schnurrt Berninger die ersten Textzeilen von "Fake empire". Sein rauer Bariton verharrt beinahe auf einem Rezitationston. Nur ganz allmählich verdichten sich die Stimmen, ganz allmählich schleichen sich erste Gitarrenlinien hinein, die Bassdrum gibt zurückhaltend den Puls aus dem Hintergrund, ehe das Stück plötzlich Schwung aufnimmt und luftig zu grooven beginnt. Verzerrte Gitarren sägen, Streicher zucken, Bläserlinien türmen sich auf, ehe das Stück auf seinem dynamischen Höhepunkt zurück ins Nichts stürzt und auf einem leisen Akkord verhallt. Fast windet man sich, einzelne Songs auf "Boxer" hervorzuheben. Jeder bezaubert durch ganz eigene originelle Details unter der simplen Oberfläche, mal munter und mit dezentem Druck, mal innig und melodieselig, nirgends hektisch.

"Mistaken for strangers" gibt sich als klaustrophobischer Midtempo-Rocker, der in seiner düsteren Intensität beinahe wie eine Vorwegnahme des kommenden Interpol-Albums wirkt. Dann sind da die butterweichen, traurigen Balladen wie "Green gloves", "Racing like a pro" oder "Gospel", die mit ihrem kristallinen Glanz die Augen befeuchten. Die hochsubtilen, intimen Arrangements, die "Boxer" durchziehen, gehören wohl zum Schönsten, was Mikrofone in den letzten Jahren aufgezeichnet haben. Das sorgt für die besondere Patina. Nach und nach füllen sich die oberflächlich einfachen Strukturen der Songs mit Details, mit kleinen Gitarrenmotiven, clever variierenden Grooves, unscheinbaren Streicherlinien, gedämpften Bläserakkorden, Klaviersprenklern, Orgel- oder Akkordeontupfern, die sich immer in den Dienst des Songs stellen und nie plakativ in den Vordergrund drängen. Hier gebührt gerade Padma Newsome höchstes Lob, aus deren Feder die orchestrale Instrumentierung stammt. Und auch die feinsinnigen Klavierparts von Sufjan Stevens, der auf "Racing like a pro" und "Ada" die elfenbeinernen Tasten spielen lässt, fügen sich nahtlos ein. Über allem thronen Behringers lakonische, fast stoische Melodien mitsamt seiner originellen, bildreichen Texte. Es sind beiläufig durch den Bart gemurmelte Beobachtungen, die fast wie unverbunden über der Musik schweben und doch tief eingewoben sind. "Turn the light out say goodnight / No thinking for a little while / Let's not try to figure out everything at once." Denn "Boxer" ist eine eher unscheinbare Schönheit, die ihren Glanz erst ganz allmählich entfaltet. Zeitlos und dunkel. Wie edle Schokolade.

(Ole Cordsen)

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Highlights

  • Fake empire

Tracklist

  1. Fake empire
  2. Mistaken for strangers
  3. Brainy
  4. Squalor Victoria
  5. Green gloves
  6. Slow show
  7. Apartment story
  8. Start a war
  9. Guest room
  10. Racing like a pro
  11. Ada
  12. Gospel

Gesamtspielzeit: 43:05 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Z4

Postings: 5861

Registriert seit 28.10.2021

2023-04-13 14:06:23 Uhr
Höre es gerade vermutlich zum ersten Mal, kann mich zumindest nicht erinnern, es mal komplett durchgehört zu haben. Musikalisch gefällt mir das überraschend gut, der Sound ist viel treibender als ich dachte. Ich glaube mit einem anderen Sänger, der etwas weniger murmelt und nicht die Ausstrahlung eines überarbeiteten Lehrers mit 2 Kindern und einem Alkoholproblem hat, wäre die Band tatsächlich was für mich. Vielleicht würde sie dann aber auch einfach sehr nach Interpol klingen. Miles Benjamin Anthony Robinson wäre aber ideal z.B.

Jedenfalls schade, die Musik ist super.

Voyage 34

Postings: 958

Registriert seit 11.09.2018

2019-05-20 06:32:13 Uhr
zustimmung!

Huhn vom Hof

Postings: 5086

Registriert seit 14.06.2013

2019-05-19 23:25:24 Uhr
"Green Gloves" habe ich wohl lange unterschätzt. Einer der schönsten Songs auf dem Album.

Hier fehlt wirklich nicht viel zur 10/10. Das ist zeitlose, großartige Musik.

Demon Cleaner

User und Moderator

Postings: 5646

Registriert seit 15.05.2013

2014-09-20 10:08:04 Uhr
In Hamburg auch. Scheint ihre Standard-Live-Version zu sein - fand ich auch besser als das Original.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19760

Registriert seit 10.09.2013

2014-09-19 14:55:32 Uhr
Von Squalor Victoria haben sie im Juni in Köln eine "Screamo"-Version performt^^ War sehr geil.
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