Bright Eyes - Cassadaga

Saddle Creek / Universal
VÖ: 07.04.2007
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

Wundenheiler
Conor Obersts Platten sind nie einfach irgendwo losgegangen. "Lifted or the story is in the soil, keep your ear to the ground" begann im Autoradio einer Frau, die er bald schon entnervt hatte. "I'm wide awake it's morning" mit einer Flugzeuggeschichte, der ebenso schnell und abrupt der Hals umgedreht wurde. Das gleichzeitig veröffentlichte, später aufgenommene "Digital ash in a digital urn" war immerhin weniger fatalistisch, kugelte sich schlimmstenfalls eine Schulter aus, während es durch einen zugewachsenen Irrgarten aus Beats und Sounds und Weckerklingeln zu seinem ersten richtigen Song fand. Die echten Probleme sollten für diese Tod- und Verderben-Platte erst später anfangen.
Gute zwei Jahre danach ist "Cassadaga" nun eher der Nachfolger von "I'm wide awake it's morning" als von "Digital ash in a digital urn", ein Country-, Folk- und Bandgefühlsalbum, das sich seiner Rolle schnell bewusst wird und erstmal eine Nachricht auf dem AB hinterlässt. Streicherschwärme kreisen bedrohlich surrend über "Clairaudients", während eine weibliche Stimme vage Wegbeschreibungen durch Amerikas Westen aufzählt und nebenbei ein paar Kleinigkeiten über den Albumtitel verrät. Oberst hat ihn von einem spirituellen Trainingslager und Wunderheiler-Camp in Florida, das er zuletzt regelmäßig besucht haben soll. "Cassadaga" ist aber nicht seine religiöse Sinnsuch- und Selbstfindungsplatte, das hat er ja längst abgearbeitet. Es scheint eher gesundes Misstrauen zu sein, das ihn diesmal treibt. "The Bible's blind, the Torah's deaf, the Qur'an's mute / If you burn them all together you get close to the truth."
Obwohl der Tod auch auf "Cassadaga" wieder zwischen den Songs herumschleicht, wirkt das Album weniger dringend als seine Vorgänger, nicht als hätte es Oberst dazu gezwungen, gemacht zu werden. Es scheint eher entstanden, weil es eben an der Zeit war und kann sich deshalb nicht verlassen auf die Zerreißprobenverzweiflung von "Lifted or the story is in the soil, keep your ear to the ground" oder die emotionale Wucht und häufig vergessene Wut, die "I'm wide awake it's morning" schnell im Griff hatten. Wie von selbst rückt deshalb die Musik an den abstrakter gewordenen Texten vorbei. Oberst und seine Band, die endlich und tatsächlich zur echten Band geworden ist, bleiben diesmal auf sich allein gestellt. Gut deshalb, dass der Mann auf der Brücke noch immer mindestens ein Teilzeitgenie ist.
Also wird arrangiert, instrumentiert und ausformuliert. Keine Bright-Eyes-Platte bisher klang so abgeschlossen und fertig wie "Cassadaga", nicht mal das angetrunkene Orchester von "Lifted or the story is in the soil, keep your ear to the ground" mit all seinem Hang zum Melodrama schöpfte ähnlich aus dem Vollen wie die verkitschte Edelschnulze "Make a plan to love me". Oberst und seine Duettpartnerin Rachael Yamagata pinseln sich hier nicht zum letzten Mal über die Bäuche - den Hintermännern Nate Walcott und Mike Mogis fällt dazu vieles leichter als bisher, obwohl sie mehr denn je zu arbeiten haben. Die Single "Four winds" etwa wird samt ihrer herrlich verbohrten Hillbilly-Fiedel auf Kraftakt und Hit getrimmt. Und "Middleman" macht später dämonische John-Cale-Dinge mit seinen Streichern, bei denen selbst die furchtlosesten Holzbläser nicht mehr im Weg sein wollen. Eine Platte ohne Biss würde das anders anpacken.
Country ist "Cassadaga" indes nur, wenn man es sehr genau nimmt, den Begriff als Präfix begreift und mit einer beliebigen zeitlosen Zweiteinheit zusammensetzt. Tatsächlich funktionierte noch kein Bright-Eyes-Album so losgelöst von Entstehungszeit und Umfeld wie dieses. Tatsächlich entzieht es sich jeder Chronistenpflicht und steht mit zaghaft gebrochener Selbstsicherheit einzig für sich selbst. Vielleicht erinnert "Cassadaga" deshalb in seinen spielfreudigsten und stimmigsten Momenten an jene Bob-Dylan-Phase, als der einsame Folktroubadour zum Bandleader wurde, weil er lieber Musikgeschichte als Protestsongs schreiben wollte. Vielleicht würde Oberst da aber auch nur mit den Schultern zucken. Er jedenfalls winkt zu einem anderen Großen rüber, macht ein grimmiges Gesicht und singt: "The best country singers die in the back of classic cars." Wir wollen mal nicht das Schlimmste hoffen.
Highlights
- Four winds
- Middleman
- No one would riot for less
- I must belong somewhere
Tracklist
- Clairaudients (Kill or be killed)
- Four winds
- If the brakeman turns my way
- Hot knives
- Make a plan to love me
- Soul singer in a session band
- Classic cars
- Middleman
- Cleanse song
- No one would riot for less
- Coat check dream song
- I must belong somewhere
- Lime tree
Gesamtspielzeit: 62:07 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Takenot.tk Postings: 2189 Registriert seit 13.06.2013 |
2025-03-15 00:09:56 Uhr
Schön, die 10 bei Middleman auch mal von wem anders zu sehen. Für mich tatsächlich sein bester Song überhaupt. Ein Fiebertraum. |
kingsuede Postings: 4552 Registriert seit 15.05.2013 |
2025-03-14 22:47:52 Uhr
Clairaudients (Kill or be killed) 8/10Four winds 9/10 If the brakeman turns my way 8/10 Hot knives 8/10 Make a plan to love me 7/10 Soul singer in a session band 9/10 Classic cars 7/10 Middleman 10/10 Cleanse song 7,5/10 No one would riot for less 9/10 Coat check dream song 7,5/10 I must belong somewhere 8,5/10 Lime tree 8/10 |
kingsuede Postings: 4552 Registriert seit 15.05.2013 |
2025-03-14 00:14:31 Uhr
Immer noch das beste Album aus der Feder von Conor Oberst. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34623 Registriert seit 07.06.2013 |
2024-09-30 19:18:15 Uhr
Mist, jetzt hab ich "Digital ash" schon Geheimfavorit genannt. Das hier ist aber auch irgendwie einer. Hat er halt zwei. Da sind so viele gute Songs und Arrangements drauf. 8,5/10 |
doept Postings: 814 Registriert seit 09.12.2018 |
2021-05-30 00:04:05 Uhr
Liebe, auf jeden Fall!Habe gerade mal nachgeschaut auf last fm, nach den beiden üblichen Verdächtigen (Lifted, wide awake) meine klare Nr 3, aber das ist ja nix schlechtes. Bester Song: I must belong somewhere. Wie kann man denn bitte so einen geilen Text schreiben? |
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Referenzen
Ryan Adams & The Cardinals; Whiskeytown; An Angle; Boy Omega; The Good Life; Okkervil River; Toad The Wet Sprocket; For Stars; Bonnie 'Prince' Billy; Sparklehorse; Songs:Ohia; Simon Joyner; Clem Snide; Uncle Tupelo; Wilco; Neil Young; Bob Dylan; Johnny Cash; Townes van Zandt; Willie Nelson; Neil Diamond; Emmylou Harris; Elliott Smith; Beck; Mark Eitzel; American Music Club; M. Ward; Iron & Wine; Andrew Bird; Neutral Milk Hotel; Two Gallants; Neko Case; Amy Millan; Jenny Lewis With The Watson Twins; Maria Taylor; Jolie Holland; Loretta Lynn; Joni Mitchell; Gram Parsons; Nick Drake; Rachael Yamagata; Rosie Thomas; Commander Venus
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