Joanna Newsom - Ys

Drag City / Rough Trade
VÖ: 10.11.2006
Unsere Bewertung: 10/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Visions of Joanna
Ein bißchen ist es ja schon wie in den alten Sylvester-und-Tweety-Cartoons früher. Der eine jagt dem anderen hinterher, ist immer knapp dran, muß eigentlich nur noch zupacken und rennt dann doch wieder vor eine Laterne. Jedes Mal. Weil Tweety zu listig ist, zu flink, zu gut befreundet mit den richtigen Leuten. Weil Tweety ungreifbar ist, so wie Joanna Newsom. In der Realität ist sie 24 Jahre alt und zuhause in Kalifornien, ja ausgerechnet. In jedem Kopf aber, der gerade nicht mehr ganz gesund ist, könnte sie auch goldstaubige Minnelieder in zugesperrten Burgverliesen singen, die Titelmelodie der französischen Revolution summen oder 500 Jahre nach uns allen mit einem Raumschiff in die Garage der Tanners krachen. Es wäre nur immer das Gleiche: Man käme nicht dahinter, man kriegte sie einfach nicht zu fassen.
Sollte es hier also irgendetwas zu verstehen geben, haben wir es nicht begriffen. Ist das hier eine Kopfsache, dann ist sie zu hoch für uns. Newsom, die gerne zur Musik der Silver Apples tanzt und viel lieber noch ein Wildpferd wäre, hatte sich ja schon mit "The milk-eyed mender" der Unwirklichkeit verdächtig gemacht. Das erste Schulkonzert einer Zehnjährigen brachte sie da mit den weisesten Songs der Dorfältesten durcheinander. Die narbenlose Unvollkommenheit ihrer schluckenden, hicksenden, schwankenden Stimme überschlug sich zur unendlichen Traurigkeit von entstellten Geschichten über Leben, Tod und die Räume dazwischen. Und obwohl seitdem zwei schnelle Jahre vergangen sind, ist doch alles nur noch weiter verschwommen. Sicher ist heute allein: Das zweite Album von Joanna Newsom heißt "Ys", und es ist so wunderschön wie nichts sonst am Leben.
Ein letzter Reality Check: Fünf neue Lieder hat Newsom auf der Harfe geschrieben, die ihr schon in frühster Kindheit aus der Seite gewachsen ist. Als die fertig und sehr lang geworden waren, schickte sie eine Brieftaube an Steve Albini, ließ sich vom alten Knurrknochen des Indierocks die Vocals und das Instrument aufnehmen, dachte deshalb aber noch lange nicht ans Ruhen. Der frisch verrentnerte Van Dyke Parks bekam eine Flaschenpost, nicht wegen der Trickbetrügereien, mit denen er einst die Beach Boys glasiert hatte, sondern weil Newsom zufällig sein Soloalbum "Song cycle" gehört hatte und gar nicht mehr an sich halten konnte vor Glück. Statt sich also in Florida mit wohlverdienten Mai Tais vollzuschütten, machte Parks einfach weiter, brachte für "Ys" ein 32köpfiges Orchester auf die Reihe, arrangierte, dirigierte und spielte am Ende auch noch Akkordeon. Er könnte jetzt wirklich sterben, wenn er wollte.
Auch wenn danach noch Jim O'Rourke ins Spiel kam, die unglaublich gut klingende Platte mixte und dafür neun Tage lang nicht geschlafen haben soll, darf man aber doch nicht die Frau am Herzen dieser Lieder vergessen. Newsoms Gespür für den passenden Ton, das richtige Register funktioniert so intuitiv wie unfehlbar. Sie verkriecht sich im richtigen Moment mit ihrer Harfe hinter das Orchester, drängelt traumwandelnd zurück nach vorne, weicht aus, überrascht, bremst ab, zieht an und singt gleichzeitig noch viel ausgewogener, unkontrollierter, erwachsener, kindlicher, besser und noch besser als auf ihrem Debüt. Es sind besonders die waghalsigen, kurvenreichen, trotzköpfigen Gesangsmelodien, wegen denen sich "Ys" immer etwas Spielerisches behält. Es ist ausgerechnet Newsoms sicherlich streitbare Stimme, die das Album trotz seiner länglichen Stücke nie schwierig werden läßt.
Jeder der fünf Songs hat dabei seine eigene Identität, jedes dieser Lieder bringt genügend Charakterzüge mit, um als eigenes Sonnensystem zu zählen. "Emily" segelt auf fliegenden Streicherteppichen durchs Fenster, erzählt irgendwie und in leuchtenden Sternenbildern von Newsoms Schwester, verbohrt sich in einem ungeheuerlichen Refrain und bekommt nach zehn Minuten von einem Banjo den sanftesten Schubser Richtung Country verpaßt, den man niemals mehr für möglich gehalten hätte. "Monkey & bear" spielt sich danach mit zuckersüßen, sockenschüssigen Disney-Kapriolen zum "Bambi"-Soundtrack auf und tut doch nur so putzig, weil sich hinter den Abenteuern seiner beiden ausgerissenen Zirkustiere ein bestimmender Affe, ein trostloser Tanzbär und letztlich gar ein Selbstmord verbergen. Oft sind es Tiere, die bei Newsom sprechen und handeln. Immer erzählen sie von den Menschen, der Liebe und wie sie nicht zusammenpassen.
"Sawdust & diamonds" steht einschneidend in der Albummitte, textlich kämpferisch, appellierend, musikalisch einfach, als einziges Stück nur mit Newsoms getriebener, ewig rastloser Harfe umgesetzt. "Only skin" streckt und spannt sich fast über 17 Minuten, Newsom spielt längst genauso sehr Theater, wie sie Lieder singt, im letzten Viertel weht plötzlich Bill Callahans (Smog) störrischer Gesang durch die Kulissen. Einmal noch geht es nach diesem Song um eine verlorene Frau, einmal noch dreht das golden glänzende Orchester Pirouetten durch triste Fantasielandschaften. Sicher heißt das Stück nicht zufällig "Cosmia", sicher sind wir danach nicht schlauer, besser oder andere, erleuchtete Menschen. Sollten wir uns aber nochmal wie der ewig hoffnungslose Kater Sylvester von vor 800 Worten fühlen, wissen wir wenigstens: Selbst wenn Tweety nicht in die Finger zu kriegen ist - bewundern kann man ihn immer und für immer.
Highlights
- -
Tracklist
- Emily
- Monkey & bear
- Sawdust & diamonds
- Only skin
- Cosmia
Gesamtspielzeit: 55:41 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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ToRNOuTLaW Postings: 404 Registriert seit 19.06.2013 |
2023-03-23 08:05:56 Uhr
Schön! Divers ist 8 Jahre alt, ich brauche wirklich neuen Stoff! |
Klaus Postings: 8163 Registriert seit 22.08.2019 |
2023-03-23 07:52:17 Uhr
Es gab gestern live 5 neue Songs. |
Unangemeldeter Postings: 1176 Registriert seit 15.06.2014 |
2022-12-16 10:31:38 Uhr
Haha, fantastischer Post. So geht's mir in der Tat auch! |
rainy april day Postings: 631 Registriert seit 16.06.2013 |
2022-12-16 02:08:52 Uhr
Mir auch nicht. Ein paar wenige Alben sind letztendlich vielleicht in meiner ewigen Bestenliste weiter vorne, aber auf keines davon habe ich so oft urplötzlich Bock und keines davon habe ich so regelmäßig seit seinem Erscheinen gehört. Manchmal bin ich auf der Arbeit oder beim Basketball oder auf dem Spielplatz oder beim Einkaufen oder beim Saufen oder oder oder und auf einmal höre ich in meinem Kopf "The meadowlark and the chim-choo-ree and the sparrow" und dann weiß ich ah jo, alles klar heute abend safe die Ys auflegen. Hab auch keine Präferenz bei den Songs. Alle 10/10. |
Unangemeldeter Postings: 1176 Registriert seit 15.06.2014 |
2022-12-15 14:27:03 Uhr
Mir auch nicht, bei keinem anderen Album steht für mich die 10/10 so gefestigt wie bei diesem hier. Bei der Songeinordnung von Felix gehe ich mit, wobei bei mir die Betonung ganz klar auf "ETWAS schwächer" liegt.Cosmia ist für mich in der "Ys Street Band"-EP-Version aber auch eine 10/10. |
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Referenzen
Marissa Nadler; Nico; Kate Bush; Björk; Joni Mitchell; Billie Holiday; CocoRosie; Vashti Bunyan; Sandy Denny; Fairport Convention; Final Fantasy; Faun Fables; White Magic; Juana Molina; Hanne Hukkelberg; Frida Hyvönen; Metallic Falcons; Psapp; Devics; Elysian Fields; The Dresden Dolls; Loreena McKennitt; Enya; Sarah McLachlan; Van Dyke Parks; Nick Drake; Scott Walker; Rufus Wainwright; Antony & The Johnsons; The Divine Comedy; Duke Special; Burt Bacharach; Fiona Apple; Tori Amos; Isobel Campbell; Emiliana Torrini; Stina Nordenstam; Schtimm; Lampshade; Mazzy Star; Hope Sandoval & The Warm Inventions; Talk Talk; Bonnie 'Prince' Billy; Smog; Ruth Crawford Seeger
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