Say Anything - ...is a real boy
Doghouse / J / Red Ink / Rough Trade
VÖ: 19.05.2006
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Ast ab
Was ist das denn? Doch nicht etwa ein Phallussymbol? Durchaus. Zumindest kann der Zweig auf dem Cover kein gewöhnlicher sein. Oder sind die üblicherweise zur Spitze hin rosa? Na also. Derart brachialer Holzhammerhumor paßt eigentlich gar nicht zu Say Anything. Und andererseits doch wieder. Der Lustmolch dahinter heißt Max Bemis und "Eat, sleep, fuck and flee / In four words, that's me" seine Selbstbeschreibung. Ein bei den Sessions gerade mal 19-jähriger Mann aus Los Angeles, mit kerniger, doppelt so reif wirkender Stimme und multiplen Fähigkeiten an den Instrumenten. Und außerdem multiplen Schrauben locker. Während der Aufnahmen zu diesem Album soll er - wie überall glaubhaft versichert wird - einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, der ihn glauben machte, alle um ihn herum seien Kannibalen, die ihm an die Rippchen wollen. Nicht infolge eines ausgiebigen Festmahls, sondern einfach so, gehörte außer Bemis während der Aufnahmen nur noch einer fest zur Band: Drummer Coby Linder. Die zahlreichen Gäste setzt Max Bemis aber in Szene, daß es sich gewaschen hat. Endlich brüllt mal wieder jemand begeistert den Namen des Gitarristen, bevor dieser zum langgezogenen Solo ansetzt. Dafür alleine schon danke, Max Bemis!
Ach ja, zurück zum Sex. Schließlich begann die Rezension so interessant mit nacktem Fleisch und schweifte dann in irgendwelche Musikalitäten ab. Also: Der "Parental advisory"-Sticker gehört da schon zurecht aufs Cover. Auch wenn Max Bemis nach Herzenslust mit gespaltener Zunge singt oder mit Metaphern jongliert, wird er zumindest einmal überdeutlich: In "Every man has a Molly", das nebenbei bemerkt sogar auf dem blauen Weezer-Album ein Highlight abgeben würde, rechnet Bemis mit einer Lady ab, die kein weiteres Mal über seine Matratze rutschen wird. "I won't ever have rough sex with Molly Connolly again", schwört er. Und hat eine wichtige Mitteilung zu machen: "Molly Connolly ruined my life / I thought the world should know." Och.
Am meisten die Spucke weg bleibt einem allerdings bei "Alive with the glory of love", das Sex im Holocaust (!) zum Thema hat, aber doch zuallererst die alles überwältigende Macht der Liebe lobpreist. Zu einem herzig-beschwingten Gitarrenmotiv wird ein ganz unglaublicher Song entfesselt. Wir kommen nicht um eine Kostprobe herum. Diesmal, lieber Leser, bitte nicht wieder die Textzitate überfliegen: "When our city, vast and shitty, falls to The Axis / They'll search the buildings, collect gold fillings, wallets and rings", lautet die Beschreibung der Szene. "Oh, love me so good / They won't hear us screw away the day / I'll make you say: / Our Treblinka is alive with the glory of love!", lautet die Beschreibung des Aktes. "Alive! Alive! Alive with love! Alive with love, tonight!", lautet die Moral von der Geschicht'. Vorhang!
Was das eigentlich Erstaunliche an "...is a real boy" ist? Nicht etwa, daß das Album in den Staaten schon 2004 erschienen ist und dennoch bis heute in Europa noch keiner so richtig Notiz davon genommen hat. Nicht, daß es zur Feier der Deutschland-Veröffentlichung eine nette Bonus-CD mit sieben skurrilen Songs wie "Wow, I can get sexual too" (Titel sagt alles) und "Metal now" (Titel sagt gar nichts) obendrein gibt. Und auch nicht, daß Say Anything scheinbar mühelos mit Indierock, Pop und Emo jonglieren, zwischendurch mal Richtung Hardrock oder Beatlesbeachboys grabschen und am Ende doch nirgends zu verorten sind, sondern absolut originell und unverwechselbar bleiben.
Nein, das eigentlich Erstaunliche ist, daß ihnen der Spagat zwischen Ernst und Humor gelingt, ohne daß es im Schritt zwickt. Oder kennt jemand ein anderes Album, das ein Vernichtungslager und Kopulation in einen Zusammenhang bringt? So daß es noch dazu nicht beschämend, sondern ungemein bereichernd ist? Na also. Say Anything wagen Dinge, die keiner sonst wagen würde. Sagen Dinge, die keiner sonst sagen würde. Das feiste Augenzwinkern allerdings nimmt man irgendwann kaum mehr wahr. Was sich beim Erstkontakt als Humorplatte präsentiert, hat sich nach dem dreißigsten Durchlauf längst zu etwas entwickelt, das die Welt doch eigentlich nur genau so verrückt abbildet, wie die nun mal ist. "...is a real boy" ist ein Album, das immer mehr aufgeht, noch eine Kleinigkeit offenbart, noch ein Detail! Bis hin zu den Texten, die man eigentlich besser nicht vorschnell deuten sollte, weil sie bewußt mit Mehrdeutigkeiten spielen. Als Rockoper war "...is a real boy" ursprünglich konzipiert. Und arg viel fehlt nicht. Diese Platte, das läßt sich nach wochenlangem, andächtigem Dauerdurchlauf jetzt schon sagen, wird sich bei sachgemäßer Lagerung ähnlich lange halten wie ein gutes Tröpfchen.
Läßt man die Bonus-Disc fairerweise außen vor, geht jeder einzelne der 13 Songs als großartig bis brillant durch. Wie "Woe", das den ohnehin exzessiven Gebrauch von "Woh woh" und ähnlichem Tralala auf die Spitze treibt und mit dem Keyboardeinsatz ab der Hälfte unglaublich aufblüht. Wie "I want to know your plans", eine rührende Ballade. Wie "Admit it!!!", das bierselige Finale, wo Say Anything dann doch mal formvollendet die Gäule durchgehen. Und zwischen all dem finden sich noch Textzeilen wie "I am skinny when I stand / But I am Buddha when I sit / And if I'm truly so enlightened / Why'd I waste your time on it?" (zum Lachen) und "You're what keeps me believing the world's not gone dead" (zum Weinen). Was will man da mehr? Und wie soll man darauf reagieren? Nun, sich zunächst mal einen Ast ablachen, dann einen Ast freuen und dann vor lauter Ekstase die Becker-Säge auf dem Boden vollführen. Eine Menge Holz. Heißa!
Highlights
- Woe
- Alive with the glory of love
- Yellow cat (slash) red cat
- Every man has a Molly
- I want to know your plans
Tracklist
- CD 1
- Belt
- Woe
- The writhing south
- Alive with the glory of love
- Yellow cat (slash) red cat
- The futile
- Spidersong
- An orgy of critics
- Every man has a Molly
- Slowly, through a vector
- Chia-like, I shall grow
- I want to know your plans
- Admit it!!!
- CD 2
- Wow, I can get sexual too
- Little girls
- Most beautiful plague
- It's a metaphor fool
- Total revenge
- Metal now
- I will never write an obligatory song about being on the road and missing someone
Gesamtspielzeit: 82:46 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
---|---|
|
2010-03-17 15:54:21 Uhr
Woe? |
The Triumph of Our Tired Eyes |
2010-03-17 11:48:34 Uhr
Habe sie auch nach langer Zeit mal wieder gehört und liebe sie immer noch. Momentan wieder auf Dauerrotation. |
Tama |
2009-04-06 09:07:06 Uhr
Nach langer Zeit läuft die Platte mal wieder und wirkt selbst am Montagmorgen Wunder. Macht schon wieder richtig Spaß! |
The MACHINA of God |
2008-02-16 13:28:10 Uhr
"An orgy of critics" mag ich wohl am meisten.Rockt einfach, der Song. Die Tempiwechsel. Und einer der geilsten Liedanfänge wo gibt. |
The MACHINA of God |
2008-02-16 13:27:50 Uhr
"An orgy of critics" mag ich wohl am meisten.Rockt einfach, der Song. Die Tempiwechsel. Und einer der geilsten Liedanfänge wo gibt. |
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Referenzen
Piebald; The Promise Ring; They Might Me Giants; Barenaked Ladies; The Presidents Of The United States Of America; Bloodhound Gang; Sugar Ray; Smash Mouth; Reggie And The Full Effect; Ween; Pixies; Superdrag; Modest Mouse; Ben Kweller; Supergrass; Violent Femmes; Camper Van Beethoven; Crackout; Ozma; Weezer; The Adventures Of Jet; Fountains Of Wayne; The Stereo; The Get Up Kids; Nada Surf; Bad Astronaut; Brand New; Something Corporate; The All-American Rejects; Ben Folds; Athlete; The Decemberists; Cake; Laakso; Adam Green; Liam Lynch; Weird Al Yankovic; Tenacious D; Hot Hot Heat; Cursive; Quasi; Pavement; Talking Heads; The Jam; The Beach Boys
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