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The Decemberists - Picaresque

The Decemberists- Picaresque

Kill Rock Stars / Rough Trade / Sanctuary / Rough Trade
VÖ: 05.09.2005

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Circus maximus

Wieder versenkt der Regisseur seinen Kopf in den zugehörigen Händen. Er ist Franzose, natürlich, hat schon Shakespeare inszeniert und überhaupt das alles eigentlich gar nicht nötig. Neben ihm steht der Produzent, etwas befremdet. Seine Frau hatte ihm von der Sache abgeraten, er muß jetzt erstmal telefonieren. Der Praktikantin geht es auch nicht besser. Sie, inzwischen desillusioniert, kommt gerade mit frischem Kaffee rein und wird angeblökt. Auf der Bühne starren derweil fünf beschämte Menschen Löcher in ihre Schuhspitzen. Einer von ihnen ist als Baum verkleidet, das aber mit Würde. Es war seine Idee gewesen, aus der bizarren Seefahrererzählung eines freibeutenden Mariners ein Theaterstück zu machen. Und es funktioniert überhaupt nicht.

Es bleibt den Decemberists, Mittelding aus Musikgruppe und Laienensemble, ansässig in Portland, Oregon, aber immerhin noch der Score zu dieser freilich frei erfundenen Geschichte, die auf dem Rücken eines Elefanten beginnt und im Bauch eines Wales enden wird. Mit verteilten Rollen und theatralischen Folksongs, Kelly-Family-Kostümen und dekadenter Popmusik, selbstgebastelten Kulissen und einer Ahnung von Indierock haben sie ihn eingespielt. In Seattle und einer Kirche, gemeinsam mit Produzent Chris Walla (Death Cab, The Postal Service) und 13 weiteren Komparsen. Nahe am Wahnsinn steht er, mit Geschichten von hoher See und Abwegigkeit. Und braucht sich doch nur schnell um drei Ecken zu denken, um plötzlich bei tagesaktuellen Themen rauszukommen. Er ist außerdem ein ausgewachsenes Meisterwerk. Aber das konnte man sich ja denken.

Zu danken haben wir Colin Meloy, dem Sänger, Songwriter und Strippenzieher bei den Decemberists. Seine Akustikgitarre bestimmt "Picaresque" vom ersten Song an, hält eigentlich nie richtig still und trägt mitunter auch ganze Stücke wie das scheue Klagelied "Eli, the barrow boy" alleine. Meist wird die versammelte Truppe aber doch mitgerissen von einer Spielfreude, wie sie sonst nur kanadischen Bands angeboren scheint. "16 military wives" steigert sich unter Orchesterbeschuß rein ins vergnüglichste Anti-Kriegslied, das man sich vorstellen kann, während das Treiben des eigenen Staatsoberhauptes zugleich als elendes Rodeoreiten entlarvt wird. Und um den Aufgalopp des hastigen Openers "The infanta" zu stoppen, braucht es schon einen ganzen Opernsänger. Glanz und Gloria. Rücken an Rücken.

Dann wieder abschalten, runterkommen. "We both go down together" dreht erhabene Streicherpirouetten über vereiste Melodieböden, der Song vereint "Romeo und Julia" mit R.E.M.s "Losing my religion". Obwohl sie natürlich ein ganz großes Theater veranstalten können, sind es doch diese ungeschminkten, unverstellten Momente, in denen die Decemberists am besten sind. "And if you don't love me let me go", singt Meloy in "The engine driver", singt von unerwiderter Liebe, singt von allem, was sie unerträglich macht. Wieder die Akustische, ein Akkordeon, schließlich ein Glockenspiel. Jeder Schlag trifft in den Magen. Man weiß um dieses flaue Gefühl. Die Decemberists haben es zu Musik gemacht.

Weil sie über all das hinaus aber auch noch spitzenmäßig verrückt sind, steht am Ende von "Picaresque" mit "The mariner's revenge song" ein komplett kirre machender Neun-Minuten-Polka, ein unablässiges Auf und Ab irgendwo zwischen Steve Urkel, Käpt'n Iglo und körperlichen Schmerzen für alle Beteiligten. Meloy spürt den Mann auf, der seine Mutter vor Jahren in den Wahnsinn trieb, jagt ihm über alle sieben Weltmeere hinterher, stellt ihn schließlich in höchster Seenot - und wird samt seines Widersachers von einem vorbeischwimmenden Wal verschluckt. "Its ribs our ceiling beams, its guts our carpeting / I guess we have some time to kill." Richtig. Jede Menge Zeit, um sich eine vernünftige Bühnenversion der ganzen Sache auszudenken.

(Daniel Gerhardt)

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Highlights

  • We both go down together
  • 16 military wives
  • The engine driver
  • The mariner's revenge song

Tracklist

  1. The infanta
  2. We both go down together
  3. Eli, the barrow boy
  4. The sporting life
  5. The bagman's gambit
  6. From my own true love (Lost at sea)
  7. 16 military wives
  8. The engine driver
  9. On the bus mall
  10. The mariner's revenge song
  11. Of angels and angles

Gesamtspielzeit: 53:07 min.

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Postings: 1336

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2013-06-18 10:42:26 Uhr
Hat ja echt viel gebracht, die Registrierungsfunktion.
brax
2012-03-28 18:35:44 Uhr
Vielleicht ist mit ersterer Textzeile einfach nur eine Art Anbandeln gemeint (im Sinne von "sie erliegt seinem Charme")?

Außerdem steht a) nicht fest ob sie Miranda heißt oder dies ihre Person lediglich umschreibt (Synonym für?) und b) verstehe ich das "untouched" als Unnahbarkeit und gleichsam standesmäßige Anerkennung (der Song hat dieses Thema ja auch zum Schwerpunkt).
Little Bernhard
2012-03-28 13:15:41 Uhr
Überhaupt nicht mein Fall. "The crane wife" ist ihr Meisterwerk!
mispel
2012-03-28 13:01:26 Uhr
Verstehe ich hier etwas falsch oder seht ihr da einen anderen Sinn?

Ich habe mir die Frage beim ersten Hören auch gestellt. Man denkt bei der Zeile "You wept but your soul was willing" natürlich sofort an sexuelle Handlungen, aber das ist kein zwingender Schluss. Vielleicht haben sie auch gar nichts gemacht oder einfach nur rumgeknutscht. Und es kommt auch auf die Definition von "unberührt" an. Unberührtheit ist für mich gleichbedeutend mit Jungfräulichkeit. Und wenn eine Frau bisher nur Petting gemacht hat, dann ist sie für mich immer noch unberührt.
The Triumph of Our Tired Eyes
2012-03-28 10:53:54 Uhr
Es gibt zwei Texstellen in „We Both Go Down Together“ die mich jedesmal irgendwie wurmen:

“I laid you down on the grass of a clearing
You wept but your soul was willing”

Das deutet doch auf irgendeine Art von sexuellem Kontakt hin oder? Auch wenn es sich „nur“ um Küssen etc. handelt. Später jedoch singt er:

“Meet me on my vast veranda
My sweet, untouched Miranda“

Warum nennt er sie denn unberührt, wenn er sie doch vorhin im Gras vernascht hat? Verstehe ich hier etwas falsch oder seht ihr da einen anderen Sinn?

Ich will das Lied oder die Decemberists damit nicht kritisieren und nehme sonst auch nicht jede Textzeile auseinander, doch bei diesem Fall wollte ich einfach mal die allgemeine Meinung hören.
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