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Radiohead - Kid A

Radiohead- Kid A

Parlophone / EMI
VÖ: 02.10.2000

Unsere Bewertung: 10/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Kid Alptraum oder die Bedeutung des A

A wie aufsehenerregend - Als Michael Stipe einst nach einer Tour mit Radiohead meinte, die Band sei so gut, daß sie ihm Angst mache, ahnte noch niemand, mit welchem Geniestreich diese Band die Musikwelt noch überfallen sollte. "OK computer", depressiv, bittersüß und zynisch bis zum Anschlag, war ein gigantisches Statement zwischen Wut im Bauch und Kloß im Hals. Songs wie "Karma police" und "No surprises" schlichen sich als verquere Hymnen in alle Gehörgänge, während paranoide Androiden wirre Geschichten erzählten. Wie sehr gerade die britische Gitarrenszene von diesem Album geprägt wurde, sah man bald an mehr oder minder eigenständigen Nacheifererern wie Travis, Muse oder jüngst Coldplay, die sich an ähnlichen Stimmungsbildern versuchten. Die britische Musikpresse apostrophierte sofort einen Trend namens "New Grave", welcher aber genauso schnell wieder beerdigt wurde. Als dann die ersten Gerüchte über ein Nachfolgealbum zu "OK computer" durch die Fangemeinde zuckten, vermochte sich niemand auszumalen, wie man sich den Nachfolger vorzustellen habe.

A wie ausgereift - Daß sich Radiohead bislang mit jedem Album deutlich vom Vorgänger abgesetzt hatten, war zwar bekannt, wie weit sich die Band aber seit "OK computer" fortentwickelt hat, konnte erstmals im Sommer diesen Jahres auf einer kurzen Tour bestaunt werden. "Wir werden einige neue Stücke spielen und einige von den alten, die noch funktionieren" kündigte Yorke beim Gastspiel in Berlin an. Er sprach's und hinterließ ein fasziniertes Publikum. Auffällig war die Breite, die der fein ziselierte Bandsound erreicht hatte. Noch mehr Mut zum Experiment und noch verspielterer Umgang mit elektronischen Gimmicks trafen auf die immer noch unglaublich intensive Ausstrahlung eines Thom Yorke, der wie eine Klammer für die Ausflüge der Band wirkte. Rhythmusbetonter, verfrickelter und verschrobener entfaltete so das neue Material seine Wirkung, ohne ein Jota an Faszination einzubüßen. Ob die Geschichte, von der "Kid A" erzählt, dieses Versprechen erfüllen kann?

A wie atemberaubend - Die weichen Töne von "Everything in its right place" schweben herein, während verspulte Sprachfetzen ein merkwürdiges Bild zu zeichnen versuchen. Als perkussive Plätschereien sich an Stimmen aus dem Vocoder vorbeischlängeln, hat sich "Kid A" zu diesen ungekannten Klängen bereits in eine völlig fremde Welt geträumt. Die Luft bleibt förmlich im Raum stehen und traut sich nur millimeterweise vorwärts. Plötzlich dröhnt ein verzerrter Baßlauf und stößt die verschüchterten Moleküle weiter, versetzt sie in den Takt von "The national anthem". In dem Moment, in dem unvermutet dreckige Bläser einsetzen, perlt Schweiß aus dem Nichts herab und es schmeckt nach Chemikalien.

A wie abgedreht - In "How to disappear completely" tauchen bis dahin keineswegs vermißte Gitarren zum ersten Mal auf. Auch hier geraten Hörgewohnheiten völlig aus der Spur. Schüchtern wagt sich "Kid A" weiter ins Reich der Träume vor. Voller Sehnsucht nimmt ihn Yorkes Stimme an die Hand, nur um noch tiefer in diese fremde Welt zu gleiten. "I'm not here / This isn't happening", versucht Yorke sich und seinen Begleiter zu überzeugen, doch zu tief ist man bereits in die Surrealität vorgedrungen. Ständig mäandern fremde Farben an halbgeschlossenen Augen vorbei. Langsam scheint sich die Wahrnehmung wieder zu steigern. Während sich pochende Adern bemerkbar machen, schrammeln manische Gitarren "Optimistic" herbei. "You can try the best you can / The best you can is good enough", erklingt wie ein verlorenes Mantra.

A wie ausartend - "In limbo" wirkt wie ein Zweikampf einer zerrissenen Seele. Im steten Fluß der Instrumente, die im scheinbaren Widerspruch zueinander stehen, wickelt sich Yorkes Singsang wie eine Schlange um sein Kind. Betörend erklingt sein "I'm on your side". Welche Seite dies allerdings ist, bleibt offen, denn "I've lost my way" stöhnend geben sich beide der Schizophrenie anheim. Hämmernder Kopfschmerz weckt die Träumenden schließlich in einer Gummizelle. "Idioteque" ist keine weitere Wahnvorstellung. "This is really happening." Diese Einsicht trifft mit aller Härte auf die wehrlose Seele. Weit aufgerissene Augen spüren nackten Schmerz.

A wie aufatmend - "Release me" fordern besänftigend klingende Stimmen in "Morning bell". Der Puls rast und das Herz holpert, als langsam Tageslicht ins Zimmer fließt. Die Wirklichkeit kehrt mit Weichzeichner zurück, doch der Geschmack im Mund ist metallisch. Man realisiert den Alptraum, der viel zu wirklich wirkte, als langsam der bittersüße "Motion picture soundtrack" herein schwebt. "White wine and sleeping pills / Help me get back into your arms / Cheap sex and sad films / Help me get where I belong." Der Abspann setzt ein und nichts wird je so sein, wie es einmal war.

(Oliver Ding)

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Highlights

  • The national anthem
  • How to disappear completely
  • Optimistic
  • Motion picture soundtrack

Tracklist

  1. Everything in its right place
  2. Kid A
  3. The national anthem
  4. How to disappear completely
  5. Treefingers
  6. Optimistic
  7. In limbo
  8. Idioteque
  9. Morning bell
  10. Motion picture soundtrack

Gesamtspielzeit: 49:53 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

edegeiler

Postings: 2851

Registriert seit 02.04.2014

2023-04-04 08:25:59 Uhr
Weit aufgerissene Augen spüren nackten Schmerz.

Und bei euch so?

lumiko

Postings: 1442

Registriert seit 09.09.2015

2022-02-23 13:37:27 Uhr
KID A ist auch für mich eine 10 / 10.

Ich habe auch erste einige Durchgänge gebraucht bis das Album mich mitgerissen hat.

dreckskerl

Postings: 9563

Registriert seit 09.12.2014

2022-02-23 10:49:20 Uhr
@peter
Ja, "House Of Cards" mögen recht viele nicht, aber ich liebe den Song auch sehr und hatte auch schon recht oft feuchte Augen beim Hören.

peter73

Postings: 2373

Registriert seit 14.09.2020

2022-02-23 08:28:07 Uhr

“How To Disappear Completely“ ist wohl neben “Street Spirit” der schönste Song von Radiohead.


absolut. und die nummer drei im bunde ist "house of cards"... wenn ich den höre, fließen meist ein bis 100 tränchen (ist jetzt egal warum, hat halt persönliche gründe)

Huhn vom Hof

Postings: 5288

Registriert seit 14.06.2013

2022-02-22 23:28:08 Uhr
“Kid A” ist eine eindeutige 10/10 und IMHO eins der 5 besten Alben aller Zeiten. Allzu oft höre ich es zwar nicht mehr, aber wenn, dann ist es immer noch eine faszinierende Reise.
Dabei gefiel mir das Album zunächst nicht besonders. Zu “Amnesiac“ fand ich relativ schnell Zugang (wenn auch nicht zu allen Songs auf Anhieb), aber “Kid A“ machte es mir sehr schwer. Vorher hörte ich Bands wie U2, Depeche Mode und R.E.M. und die Klangwelten von Radiohead waren völlig neu für mich. Aber so nach und nach begann dieses sperrige, vertrackte Werk sich zu entfalten, ein Rädchen griff ins andere und die Songs und Sounds wurden mit der Zeit zugänglicher.

“How To Disappear Completely“ ist wohl neben “Street Spirit” der schönste Song von Radiohead.
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