Bohren & Der Club Of Gore - Geisterfaust

Wonder / Indigo
VÖ: 02.05.2005
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Luftig wie ein Grab
Wie klingt ein schwarzes Loch von innen? Kann man hören, wenn die Zeit stehen bleibt? Auch wenn die Antworten auf diese Fragen immer noch Lichtjahre entfernt scheinen: Wir sind ihnen einen großen Schritt näher gekommen. Die Entdeckung der Langsamkeit war gestern und ist inzwischen kalter Kaffee. Der Fortschritt heißt Stillstand. Kaum etwas regt sich noch. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht nichts mehr. Verharren im Nichts, Reglosigkeit in Moll. Der Klang im Moment eingefroren, doch der Moment dauert ewig. Fast.
Die "Geisterfaust", das neue Album der Mülheimer Doom-Jazzer Bohren & Der Club of Gore, schlägt langsam zu. Kaum merklich, kaum wahrnehmbar. Auf dem Cover prangt eine einsame blaue Lilie, Symbol der romantischen, ins Unendliche gerichteten Sehnsucht. Klänge kommen aus dem Nichts, verschwinden dahin zurück. Der Blick geht Richtung Horizont, irrt umher, unfähig, etwas zu fixieren. Es gibt kein Woher, kein Wohin. Dunkle, schwummernde Akkordflächen vom Fender Rhodes bleiben stehen - lange - verhallen nur langsam. Alle paar Minuten erwacht der Schlagzeuger aus seinem Halbschlaf, streicht mit seinem Besen über Snare oder Becken. Ein einzelner Baßton liegt herum. Lange. Fast wie zufällig folgen die Klänge aufeinander. Beinahe hat das Ohr den alten Akkord schon vergessen, als der neue hineingleitet. Kaum je ein leiser Hauch von dahingetupften Melodiebruchstücken.
Mit ihrem Konzept der beinahe stillstehenden Langsamkeit bewegen sich die vier in rasantem Tempo auf John Cages Orgelwerk "As slow as possible" zu, das seit fünf Jahren im Halberstädter Dom aufgeführt wird. Es hat eine Gesamtaufführungsdauer von 639 Jahren, wobei es hier allerdings Monate bis Jahre dauert, ehe sich ein neuer Ton hinzugesellt. Doch selbst das wäre den vier aus Mülheim noch zuzutrauen - wenn nicht die begrenzte Lebensspanne dazwischen käme.
Statische, unbewegliche Dunkelheit, aus der es, so scheint es, kein Entrinnen gibt. Die Atmung geht flach, die letzten Lebensgeister packen ihr Reisegepäck für den Abflug. Wer hier keine Geduld hat, ist verloren. "Geisterfaust" ist immense Konzentrationsherausforderung. Minimal Music in "stop motion". Radikale Reduktion. Verlust des Zeitgefühls. Wer die fünf Finger der Faust an einem Stück durchhört, von "Daumen" bis "Kleiner Finger", dem erscheint danach jede Zeitlupe als Geschwindigkeitsrausch, komplette Reizüberflutung. Selbst die wahrlich nicht flotten Vorgängeralben durchrasen die Zeit im Vergleich. Fast schon würde man "Black Earth" deswegen zugänglicher, ja besser, nennen. Aber nur nach bestehenden Maßstäben, die hier eigentlich eh nie greifen könnten.
Nur ganz am Ende reichen sie uns den kleinen Finger, ziehen uns ein Stück weit aus dem orientierungslosen Klangnirvana. Ein einziges und letztes Mal rafft sich das Saxophon auf und gibt dem Ohr kurzzeitig das, was es über fünfzig Minuten lang schmerzlich vermißte: Halt. Das Gefühl von Struktur. Beklemmend, verwirrend, fast nur wie beiläufig. Wieder ein Grenzerlebnis, ein bannender Trip jenseits von allem.
Highlights
- Mittelfinger
- Kleiner Finger
Tracklist
- Zeigefinger
- Daumen
- Ringfinger
- Mittelfinger
- Kleiner Finger
Gesamtspielzeit: 58:55 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Dolores´ Zeuge |
2011-10-22 22:08:26 Uhr
Da es keinen "Black-Earth-Thread" gibt, schreibe ich eben hier, dass ich bei "Constant Fear" kurz im Wachkoma war. Alles hat sich sehr warm angefühlt, die Extremitäten waren schwer wie Blei, der Kopf dagegen leicht, meine Füße schienen in einer anderen Zeit zu wohnen.Ein unheimlicher Song. |
dumbsick |
2010-10-07 09:50:58 Uhr
find auch, dass geisterfaust sehr gelungen ist. die aktuelle mitleid lady "ep" ist auch sehr gut:) |
Fever Haze |
2010-10-06 22:21:55 Uhr
Geisterfaust ist großartig. Ich empfehle auch den Sunset-Mission-Thread in diesem Universum. |
duke doom |
2010-10-06 22:21:37 Uhr
Drone Rock meinte ich natürlich. |
duke doom |
2010-10-06 22:20:56 Uhr
wie die Geisterscheiße in den Topf, passt das.Zu dem Mönchsfilm musst du dir sunn0))) bzw. Doom-Metal geben! |
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Referenzen
Angelo Badalamenti; Danny Elfman; Einstürzende Neubauten; Die Haut; Foetus; Bark Psychosis; Biosphere; Piano Magic; Godspeed You! Black Emperor; A Silver Mt. Zion; Rachel's; Dirty Three; Sigur Rós; Mogwai; Aereogramme; Slint; Karate; Fantômas; Melvins; The Doors; Pere Ubu; Thelonious Monk; Mouyayoum; Tied & Tickled Trio; Village Of Savoonga; Anna Karenina; John Cage; Steve Reich; LaMonte Young; György Ligeti; Earth; sunnO)))
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