The Dresden Dolls - The Dresden Dolls

8ft. / Roadrunner / Universal
VÖ: 06.09.2004
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Anna Chronismus
Der Trend geht solange zur Neige, bis er Brecht. Und zwar Bertolt Brecht. Ausgerechnet am alten, kommunistischen Dramatiker richtet sich inmitten des abflauenden Garagen-Hypes einer der schillerndsten Neuankömmlinge im Feuilleton zu imposanter Größe auf: The Dresden Dolls. Ähnlich wie sie im Bandnamen zugleich Bezug auf Zerstörung und Verspieltheit nehmen, kommt auch ihr "Brechtian Punk Cabaret" geradezu dialektisch herüber: Klavier und Schlagzeug, Romeo und Julia, Höhenflug und Absturz, Lächeln und Grimassen, Spieluhr und Holzhammer, Zärtlichkeit und Gewalt, Chanson und Rock. Auf "The Dresden Dolls", dem offiziellen Debüt der theatralischen Bostoner nach dem Vorab, erwartet den Hörer ein düsteres Spiel mit den Gegensätzen.
Wer nun klischeebeladene Schwarzkittel-Romantik oder verkopftes Kunsthandwerk vermutet und sich dem exaltierten Kammerspiel der beiden Weißgesichter entsprechend vorurteilsbehaftet nähert, dürfte bald bemerken, daß die eigene Kinnlade verwundert nach unten fällt. Was die Inszenierung in Strapsen und offenem Hemd schon andeutet, bewahrheitet sich in der unmittelbaren Körperlichkeit der Dresden Dolls. Die stolpernde Lolita-Verführung "Missed me" dürfte Möchtegerns wie Conor Oberst die Schamesröte ins überschätzte Gesicht treiben, "Half Jack" fahndet mit transsexueller Vehemenz nach dem wirklichen Selbst, und im unschuldig geschunkelten "Coin-operated boy" vergeht sich Palmer genüßlich an einem neuen Spielzeug fürs Bett. "I can't imagine / Any flesh and blood would be his match / I can even take him in the bath."
Ihr dringlicher Vortrag, irgendwo zwischen Patti Smith, PJ Harvey, Fiona Apple und Lotte "Seeräuber-Jenny" Lenya, fasziniert von der ersten Minute. Und plötzlich trümmert auch noch ihr Partner Brian Viglione auf seinen Drums herum, als gäbe es kein Morgen, sondern nur das energetische Vorgestern der ausgehenden Weimarer Republik. "I don't necessarily believe there is a cure for this / So I might join your century / But only as a doubtful guest." Schon der überdrehte Furor der ersten Single "Girl anachronism" stellt ein Rockverständnis klar, das auf das Statussymbol mit den sechs Saiten genauso verzichtet wie die White Stripes auf den Baß.
Der burleske Gothic-Blues dieses amerikanischen Duos ist dermaßen aus der Zeit gefallen, daß er schon wieder futuristisch erscheint. Palmers Klavier torkelt durch die Harmonien, hin und her gerissen zwischen Libido und Selbstzerstörung, immer aufgefangen von Vigliones rustikalem Wumms. Irgendwie paßt es, daß sich die beiden ausgerechnet an Halloween kennengelernt haben. Wenn in "Truce" zwei Liebende den Kalten Krieg nachstellen. Wenn sich in "Slide" das Verderben unaufhaltsam nähert. Und wenn Palmer zwischen all den Walzern und den Polkas, den alptraumhaften Märchen und den Vaudeville-Märschen in "The Jeep song" dem Geländewagen ihres Verflossenen hinterherweint, sitzt man mitten in einem seltsam verdrehten Revival vom "Leader of the pack" der Shangri-Las. So entpuppt sich das eindringliche Spiel mit dem Untergang nicht nur im Geiste als klassischer Rock'n'Roll. Vor lauter Leidenschaft immer kurz vor dem Abgrund. Und bald schon mehr als nur einen Schritt weiter.
Highlights
- Good day
- Girl anachronism
- Half Jack
- Coin-operated boy
Tracklist
- Good day
- Girl anachronism
- Missed me
- Half Jack
- 672
- Coin-operated boy
- Gravity
- Bad habit
- The perfect fit
- The Jeep song
- Slide
- Truce
Gesamtspielzeit: 56:55 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Mixtape |
2008-04-25 14:50:56 Uhr
Den Nachfolger fand ich dann doch stärker, das Debüt hatte zu viel von "Theatermusik". |
Raventhird |
2008-04-25 13:43:51 Uhr
Ein moderner Klassiker, schon jetzt, JA! Der Nachfolger war auch gut, aber leider etwas homogener. |
Greylight |
2008-04-25 12:23:37 Uhr
In dem Thread fiel das Wort "exaltiert". Ja, ebensolcher Gesang hat mich wohl lange Zeit davon abgehalten, mir mal ein Album zu holen. Aber manchmal ist das die Portion Theatralik, die man wohl ganz gut vertragen kann. |
Greylight |
2008-04-25 12:11:27 Uhr
Habe mir das Album nun (endlich) mal geholt und bin streckenweise sehr begeistert. Weiß noch nicht, ob sich die Genialität durch das gesamte Album zieht, aber wahrscheinlich schon... |
Hansmaulwurf |
2006-01-01 16:08:34 Uhr
Jau! Die "Paradise" ist echt gut geworden. Vor allem das "War Pigs" Cover ist der Hammer. Auch gut die Doku "Ein Tag im Leben der Dresden Dolls", viele lustige Szenen. Bei Amanda Palmer würde ich es aber glaube ich keine 5 Minuten in der Wohnung aushalten, WAS ein Chaos! |
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Referenzen
Kurt Weill; Béla Bartók; Lotte Lenya; Zarah Leander; Marlene Dietrich; Devics; Elysian Fields; Azure Ray; Nina Nastasia; Patti Smith; Sandy Dillon; Fiona Apple; Emily Bezar; Nellie McKay; Tori Amos; Kate Bush; Rasputina; Faith & The Muse; Siouxsie And The Banshees; Lydia Lunch; Diamanda Galás; Lene Lovich; Kaizers Orchestra; Tom Waits; Nick Cave & The Bad Seeds; Randy Newman; Nico; The Velvet Underground; John Cale; Lou Reed; Frank Zappa; Pere Ubu; The World/Inferno Friendship Society; Hoagland Hill; Bright Eyes; PJ Harvey; Scout Niblett; The Fiery Furnaces; Glass Candy And The Shattered Theater; The Swans; Trost; Nina Hagen; Ute Lemper; Marilyn Manson
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