Big Special - National average

So / Rough Trade
VÖ: 04.07.2025
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Post-Punk
Alles beginnt mit einer Entschuldigung: "I'm sorry about the mess", presst Joe Hicklin hervor, während die Bässe blubbern. Im Refrain wird zu einer bratzigen Gitarre lalalat. Bereits im Opener "The mess" wird deutlich, dass Big Special problemlos in die Fußstapfen der frühen Kaiser Chiefs als Indie-Rock-Hitlieferanten treten könnten. Mit Betonung auf "könnten". Denn etwas ist anders: Allzu sarkastisch klingen die den "resurrection blues" verzierenden "Lalala"s, allzu deutlich konterkarieren pechschwarze Lyrics das wuchtig-eingängige Zusammenspiel von Bass, Gitarre, Drums und Synthies. Vom anstehenden schleichendsten Herzinfarkt der Geschichte spricht Hicklin – was inmitten eines sich über zwei DIN-A4-Seiten erstreckenden Textes keineswegs nach einer Rock'n'Roll-Floskel klingt. Was hat ihn bloß so ruiniert? Die Lyrics deuten es an wie die Schmierereien an der Wand: "I've swallowed thirty years of stress / It's blown myself apart / To paint the town and city / And call it modern art."
Es ist angerichtet! Aus dem Nichts servieren uns Big Special ihren Zweitling "National average". Das Cover suggeriert ebenso wie der Titel des Albums ungenießbare englische Hausmannskost. Welch ein Trugschluss! Sänger Hicklin und Drummer Callum Moloney haben sich ihr urbritisches Augenzwinkern bewahrt. Eine Band, die ihr zweites Album ohne vorherige Ankündigung veröffentlicht, weiß in der Regel um die Stärke ihres Materials. Das löst indes jedes Versprechen ein, das "Postindustrial hometown blues" gab. Der das Cover des Vorgängers zierende schwarze Hund ist nicht entschwunden. Er versteckt sich nur besser. Big Special erzählen weiterhin von der Tristesse der britischen Unterschicht, von prekären Jobs und Mindestlohn, tun dies jedoch noch grooviger als auf dem Debüt. Für griffige Parolen bleibt indes keine Zeit. "Mach kaputt, was Dich kaputt macht"? Man ginge daran kaputt. Schließlich muss der Arbeitsplatz gesichert und die Miete bezahlt werden, wie Joe Hicklin weiß. Also antwortet er dem Bürokommandeur lieber – zunächst passiv-aggressiv flüsternd, später brüllend – mit "Yes Boss!". Spätestens, wenn im Mittelteil Jack-White-Gedächtnis-Gitarre und Moloneys Drums auf knallende Synthies treffen, dürfen sämtliche Festival-Veranstalter mit Moshpit-Bedarf die Audiobewerbung verstanden haben. Zu Recht! Was für ein Banger!
"Is it too much to ask for a #1 hit single?", nölt Hicklin in "Shop music" und lässt dabei offen, wer hier lyrisches Wir ist: geldgeile Musikmanager oder er selbst und Bandkollege Moloney. Was für die durchweg cleveren Lyrics spricht. Sollten Hicklin und Moloney mit dem lyrischen Wir gleichzusetzen sein, will man ihnen in aller Klarheit antworten: Angesichts von Perlen wie "The mess", "Yes Boss" oder "Domestic bliss" wäre das Erklimmen des Chartsthrons hochverdient. Letzterer Song dürfte allerdings nicht nur im Land der ihren Blumengarten pflegenden Mark Forsters mit schrägen Zeilen wie "The belly of life growled and made a sandwich out of me", der Mixtur aus Spoken-Words-Strophen, (grandios eingesungenem) gospelartigem Refrain und Saxophonsolo das Gros der harmonieseligen Hörerschaft überfordern.
Big Special sind nicht nur wütend wie Sleaford Mods und elegant wie Squid. Sie sind auch traurig wie einst The Verve und poetisch wie Morrissey zu Smiths-Zeiten, wie spätestens das letzte Albumviertel zeigt, in dem der schwarze Hund aus dem Schatten tritt und jedweden sarkastischen Überbau beiseiteschiebt. Zu verträumten Synthesizersounds spricht Hicklin "I once had a kestrel" ein, ein Gedicht über ein Falkenweibchen, das seinem Gefängnis entkommt und dafür mit seinem Leben bezahlt. Das Wort "Interlude" wird diesem berührenden einminütigen Kleinod nicht gerecht. Zum Abschied folgt eine weitere zeitlose Fabel: Im hymnischen, von düsteren Synthies und Post-Rock-Gitarre getragenen "Thin horses" hält der beeindruckend flexible, hier Vibrato einsetzende Sänger eine Message bereit: "Son, beware the man / Who only lives to win! / It breaks a strong boy's spine / To carry big men like them." Selten klingt Pathos so aufrichtig.
Die Suche nach einer Playlist gemäß dem Motto "All killer, no filler" kann offiziell beendet werden. Hicklin und Moloney erweisen sich an der Schnittstelle zwischen Indie-Rock, Britpop und Post-Punk als früh zur Meisterschaft gelangte Musiker. So geht Punk für Menschen, die zu viele Bücher gelesen und zu viele Nackenschläge erlitten haben, um noch an eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen und an die Sinnhaftigkeit simpler Parolen zu glauben. Und stattdessen die Frage "Why is satisfaction so dependent on pulling things down?" ("I once had a kestrel") stellen. Ja, so geht wörtlich zu nehmender Post-Punk. In diesem Sinne: Zu Tisch! Dort wartet mitnichten nationaler Durchschnitt. Sondern Englands Band der Stunde.
Highlights
- The mess
- Yes Boss
- I once had a kestrel
- Thin horses
Tracklist
- The mess
- God save the pony
- Hug a bastard
- Shop music
- Pig's puddin
- Professionals
- Get back safe
- Yes Boss
- Domestic bliss
- Judas song
- The beast
- I once had a kestrel
- Thin horses
Gesamtspielzeit: 46:01 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Lichtgestalt User Postings: 7095 Registriert seit 02.07.2013 |
2025-07-16 07:49:08 Uhr
> Wie der Nachfolger entsprechen> besser gewertet werden kann, als das > Debüt erschließt sich mir somit nicht > wirklich (7 zu 9). Unterschiedliche Rezensenten, unterschiedliche Meinungen. Ich hätte beiden Alben eine 8/10 gegeben, letztendlich ist aber doch der Text wichtiger als die Note. |
Samuel Herring Postings: 253 Registriert seit 22.08.2019 |
2025-07-16 07:33:14 Uhr
Ich habe das Debüt auch sehr gemocht.Das hier ist in Ordung. The Beast. höre ich sehr gern. Wie der Nachfolger entsprechen besser gewertet werden kann, als das Debüt erschließt sich mir somit nicht wirklich (7 zu 9). Aber ist halt so. |
zolk Postings: 1642 Registriert seit 15.01.2024 |
2025-07-12 17:06:22 Uhr
Dieses Genre ist jetzt nicht wirlich meins aber bei einer 9/10 wird man natürlich neugierig. Also dafür, dass mich dieses Genre in der Regel wenig interessiert, gefällt mir das Album schon ganz gut. Kleine Randnotiz: Für meinen Geschmack sticht "Domestic bliss" schon ziemlich heraus und ist für mich der mit Abstand beste Song auf dem Album. Besonders den Einsatz von Bläsern (Saxophon?) finde ich in dem Song sehr gelungen. Das erinnert mich immer ein bisschen an "Theatre of hate". Für meinen Geschmack könnte der Song auch ruhig noch ein wenig länger gehen, weil jedes Mal denke ich, och schade, schon zu Ende. |
bender Postings: 163 Registriert seit 03.04.2020 |
2025-07-11 22:06:53 Uhr
„Das irritiert doch schon sehr.“ |
nörtz User und News-Scout Postings: 16348 Registriert seit 13.06.2013 |
2025-07-11 14:56:03 Uhr
Was? |
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Referenzen
Sleaford Mods; Yard Act; Soapbox; Getdown Services; The White Stripes; Jack White; Kasabian; Viagra Boys; Chalk; Fontaines D.C.; I Like Trains; Kaiser Chiefs; The Wombats; Deadletter; Arctic Monkeys; Sprints; Fat Dog; Idles; Snayx; Gurriers; Shelf Lives; Humour; Folly Group; The Streets; Heartworms; Squid; Joy Division; The Verve; Oasis; The Smiths
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