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Jenny Hval - Iris silver mist

Jenny Hval- Iris silver mist

4AD / Beggars / Indigo
VÖ: 02.05.2025

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Der Nase nach

Gerüche sind flüchtig. Manche erfüllen die Menschen mit Ekel, andere werden als angenehm empfunden. Einige lassen sich sogar vermarkten. Gerüche zu vertonen, ist wahrscheinlich ein Ding der Unmöglichkeit, was Jenny Hval jedoch nicht davon abhält, es trotzdem zu versuchen. Ihr neues Album "Iris silver mist" markiert einen Höhepunkt in einer ohnehin beeindruckenden Diskographie. Es ist einerseits ein typisches Hval-Album, mit federleichten Arrangements, betörenden Melodien und mal mehr, mal weniger kryptischen Texten. Andererseits besitzt es eine konzeptionelle Dichte, die in dieser Form höchstens auf "Blood bitch" zu erkennen war. Noch immer verweigert sich die Norwegerin bewusst aktuellen Trends, sie hat ihren Stil nicht nur gefunden, sondern entwickelt ihn fortwährend weiter. Das Ergebnis ist von der ersten bis zur letzten Sekunde schlüssig und schon jetzt ein heißer Kandidat für all jene Listen, die traditionell zum Jahresende verfasst werden.

Schon immer war Hval vom Willen zur Kunst getrieben, was ihrer Musik bisweilen einen etwas verkopften Charakter verlieh. Diese Haltung hat sie freilich nicht abgelegt, es fällt jedoch auf, dass sie auf "Iris silver mist" fast vollständig auf ihre zum Markenzeichen gewordenen Spoken-Word-Monologe verzichtet. Gleichzeitig besitzen viele Songs absoluten Ohrwurmcharakter. So stellt etwa der Opener "Lay down" ein Paradebeispiel für diese Entwicklung dar. Der Sound ist offen, man kann die Weite des Raums hören, in der das Schlagzeug aufgenommen wurde. Zu sphärischen Streicher- und Synthesizerklängen singt Hval eine Melodie, die schlicht zum Niederknien ist. In "To be a rose" verengt sich die Wahrnehmung. Hvals klare Stimme steht nun vollends im Mittelpunkt. "A rose is a rose is a rose / Is a cigarette", verkündet sie. Es geht natürlich um Gerüche, aber auch um Familie, um die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Während die Mutter auf dem Balkon raucht, versinkt das lyrische Ich in Tagträumen. Das, was uns trennt, ist manchmal auch das, was uns vereint.

Immer wieder schlägt die Künstlerin unerwartete melodische Haken. Diesbezüglich ragt besonders "I don't know what free is" heraus, welches nach einem tastenden Beginn dank eines perfekt gesetzten Akkordwechsels zu einer Hymne wird. Doch gerade als sich Euphorie breitmacht, erhöht sich plötzlich das Tempo und die Komposition zerbricht in ihre Einzelteile. Aus den Trümmern steigt mit "The artist is absent" eine Meditation über das Dasein als schaffende Person empor – doch auch diese ist nur von kurzer Dauer. Diese Flüchtigkeit ist kein Zufall, sondern pure Absicht. Hval hat noch immer einen Heidenspaß daran, mit Erwartungen zu spielen. Konventionen werden zwar größtenteils eingehalten, doch nur so lange wie absolut nötig. Anders gesagt: Alles ist da, wo es hingehört, aber nicht für immer. Das Wechselspiel zwischen längeren Songs und kurzen Interludes bildet hierbei die Grundstruktur des Albums. Die kürzeren Tracks nehmen häufig Elemente und Gedanken des vorangegangenen Stücks auf, ehe sie die Bühne für den nächsten Akt bereiten. Dass eines dieser Zwischenstücke "Heiner Müller" heißt, ist demnach kein Zufall.

Kaum ein Track ist länger als vier Minuten, nur das epische "All night long" und der das Album beschließende Ambient-Ausflug "I want the end to sound like this" nehmen sich mehr Zeit. Besonders "All night long" verdient eine ausführlichere Beschreibung: Langsam, fast unmerklich schleicht sich dieser Song ins Bewusstsein. Die erste Hälfte erinnert in Sound und Gestus an Trip-Hop-Künstler der späten 90er-Jahre, ehe im zweiten Teil die Räume zwischen den Tönen dominieren. Zu einer behutsam gestreichelten Akustikgitarre haucht Hval elegische Verse über das Vergehen ins Mikrofon. Immer länger werden die Pausen, immer höher wird die Stimme, bis das Unvermeidliche geschieht. "Performing on top of my bones / Mine and my family's bones / As long as I'm performing / I am not choosing or dying", murmelt die Sängerin gegen Ende und liefert damit so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für ihr einzigartiges Schaffen. Musik ist letzten Endes ebenso flüchtig wie ein Geruch. Ein Moment, der in Schall und Raum vergeht.

(Christopher Sennfelder)

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Highlights

  • Lay down
  • To be a rose
  • All night long
  • I don't know what free is

Tracklist

  1. Lay down
  2. To be a rose
  3. I want to start at the beginning
  4. All night long
  5. Heiner Müller
  6. You died
  7. Spirit mist
  8. I don't know what free is
  9. The artist is absent
  10. Huffing my arm
  11. The gift
  12. A ballad
  13. I want the end to sound like this

Gesamtspielzeit: 42:44 min.

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User Beitrag

Telecaster

Postings: 1370

Registriert seit 14.06.2013

2025-05-21 09:59:48 Uhr
Werd mal ganz unvoreingenommen reinhören, auch wenn ich mich noch mit Schaudern an ihr Buch "Gott hassen" zurückerinnere. Das fand ich echt schrecklich geschrieben. Nahezu unlesbar.

MickHead

Postings: 5575

Registriert seit 21.01.2024

2025-05-17 09:47:30 Uhr
Metacritic 86/100

Platten vor Gericht

https://plattenvorgericht.blogspot.com/2025/05/jenny-hval-iris-silver-mist.html

ijb

Postings: 7151

Registriert seit 30.12.2018

2025-05-15 10:40:30 Uhr
Ich kam mit "Classic Objects" eigentlich ziemlich gut zurecht... finde es total schwer, ein Album als ihr "bestes" herauszuheben, weil die alle so enorm unterschiedlich sind. "Viscera" ist vielleicht das beste, weil es so das erste war, auf dem sie ihre eigene Stimme gefunden hat... "Innocence Is Kinky" ist vielleicht das beste, weil es am nähsten (sagt man das so?) am Indie-Rock ist und eine tolle Energie hat... aber "Apocalypse, Girl" ist auch super, total spannende Kollaboration mit dem genialen Lasse Marhaug, daher nicht ganz einfach... einige Zeit dachte ich aber, "Blood Bitch" ist ihr bestes, weil es so ein Sprnug nach vorne und in die Pop-Richtung war und die verschiedenen Aspekte zwischen Avantgarde und Noise und Art und Klangkunst und Pop-Meloldien und Feminismus cool bündelt... "The Practice of Love" wurde dann schon mal sowas wie Synth- oder Dream-Pop, beim Konzert war ich leider nicht - da wurden die Alben immer kürzer, "Practice of Love" dann das kürzeste Album, bevor das Programm mit "Objects" und nun "Iris" wieder deutlich länger wurde. Leider bin ich zum KOnzert wieder nicht in der Stadt.

Auch die vielen verschiedenen Kollaborations-Alben (mit TJO/Kim, Håvard, Susanna) sind immer wieder spannend, gehen allerdings in experimentellere Richtungen als die "Solo"-Alben.

Unangemeldeter

Postings: 1776

Registriert seit 15.06.2014

2025-05-15 09:58:29 Uhr
Ich liebe die Practice of Love, für mich klar ihre beste. Das war auch so ein irre schönes Konzert damals im HAU. Die Classic Objects hat mich (nach anfänglicher Zuneigung) allerdings auch eher ratlos zurückgelassen, die fühlte sich sehr ziellos an, irgendwann ging jedem einzelnen Song der Song verloren. Auch fand sie da meiner Meinung nach nur sehr wenige tolle Melodien - was dann bei ihrer Art zu singen schnell zu einem nervigen Sing-Sang wird. Wie als würde sie die Melodien beim Aufnehmen selber noch suchen.

Hatte daher gar keine große Lust auf dieses neue Album, aber hab es nun doch durchlaufen lassen und finde es aufs erste Ohr ziemlich großartig. Ich weiß gar nicht ob es daran liegt dass es wirklich "zugänglicher" ist - die Songs und Melodien sind einfach besser.

Christopher

Plattentests.de-Mitarbeiter

Postings: 3837

Registriert seit 12.12.2013

2025-05-15 00:47:28 Uhr
Finde das Album überhaupt nicht sperrig, da sind doch fast nur extrem melodische Songs drauf. Ein bisschen verkopft ist sie natürlich schon, stört mich hier aber weniger als z.B. auf den letzten beiden Alben.
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