Car Seat Headrest - The scholars

Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 02.05.2025
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

Kommst Du mit aus dem Abgrund?
In einem Interview gewährte Will Toledo im Frühjahr 2025 zahlreiche Einblicke in sein Seelenleben. Es gab schließlich viel zu rekapitulieren: Denn als der Frontmann von Car Seat Headrest den wohl tiefsten Tiefpunkt einer kontinuierlichen Abwärtsbewegung erreicht hatte, sah er sich nach seinen Angaben mit einer ganz besonderen Frage konfrontiert. Und die rankte sich um eine womöglich schmerzhafte Einsicht des Künstlers als noch jungem Mann: Was wäre, wenn es nun einfach vorbei wäre? Seine Mitmusiker hätten ihm geraten, notfalls einen Schlussstrich zu ziehen. Toledo war zuvor an Covid erkrankt, danach nicht mehr richtig auf die Beine gekommen, weitere Malaisen drückten auf Körper und Geist. Alles wurde mühsam, an kreative Prozesse war kaum mehr zu denken. Der Sänger kämpfte sich aber aus dem Loch heraus, fasste neuen Mut und wurde vor allem wieder gesund. Aus der Wertschätzung dieses Prozesses heraus ist nun ein neues Album entstanden – eines mit Überlänge. "The scholars" stellt dabei nicht einfach nur neues Material dar, sondern zählt zum Besten, was die Band aus Virginia bislang erschaffen hat.
Ziemlich genau fünf Jahre haben sich Toledo und seine Kollegen für den Nachfolger von "Making a door less open" Zeit gelassen, wenngleich es Ende 2023 noch in Pandemiezeiten in Form von "Faces from the masquerade" ein kraftvolles Live-Lebenszeichen gegeben hatte. Car Seat Headrest leben direkt zum Auftakt ihren Hang zur Opulenz aus, denn der Opener "CCF (I'm gonna stay with you)" brilliert nicht nur mit den bandtypischen Trademarks, sondern wagt auch das Überschreiten der Acht-Minuten-Marke. Das Stück steht gleichzeitig am Beginn einer ersten Hälfte, die in der Folge durch vier eher kürzere Songs komplettiert wird. Das Quartett präsentiert sich bereits hier bestens aufgelegt, spielt sich durch typische Klangmuster wie in "Devereaux" inklusive potenziellen Mitsingpassagen, greift aber auch zur minimalen Instrumentierung im feinen "Lady gay approximately" oder zu dezidiert rockigen Mustern wie im kernigen "The catastrophe (Good luck with that, man)", das fröhlich in Richtung 1960er winkt. "Equals" setzt den Schlusspunkt unter Teil eins.
Und dann? Dann geht der Spaß erst richtig los. Es folgt eine Art Album im Album mit drei Songs, die alle Grenzen sprengen. Das tolle "Gethsemane" kratzt an den elf Minuten, "Reality" durchbricht diese – und "Planet desperation" setzt mit seinen fast 19 Minuten dem Ganzen die Kompositionskrone auf. Nun könnte man befürchten, dass sich Car Seat Headrest an diesem ambitionierten Unterfangen verheben, aber schon beim ersten Hördurchgang wird deutlich, dass die Musiker dieser Gefahr in größter Souveränität die kalte Schulter zeigen. Es ist für Fans der Formation wahrlich nichts Ungewöhnliches, dass sie zum XXL-Format greift. Aber in diesem spannenden, mit großer Detailliebe konstruierten Songtrio verschmelzen die Musiker ihre gemeinsamen Erfahrungen zu einer fantasievollen Einheit, streuen auf diesem Weg nur vereinzelt und bestens dosiert elektronische Elemente ein und legen Stücke vor, die weiter wachsen dürften. Und unterstreichen ihren selbst formulierten Anspruch, eine Art Rockoper erschaffen zu haben, die sich vor großen Vorbildern wie The Who oder David Bowie verneigt.
Bei all der Begeisterung über die durchweg positiven Höreindrücke war vom inhaltlichen Konstrukt noch nicht einmal die Rede. Und auch das hat es in sich: "The scholars" spielt auf dem fiktiven Campus der Parnassus-Universität, allerlei Protagonisten treten nacheinander in Erscheinung, und es werden die kleinen und die großen Fragen des Lebens betrachtet. Auch hier ausreichend Stoff, der auf seine Entdeckung wartet. Inzwischen fühlt sich Toledo nach eigenem Bekunden übrigens wieder deutlich besser, wenngleich er bei öffentlichen Auftritten und den wenigen Konzerten konsequent zur Maske greift. Klar ist: "The scholars" dient als eindrucksvoller Nachweis der zurückgewonnenen Stärke. Mehr als vielleicht jemals zuvor zeigt sich auf dem Album, dass sich Car Seat Headrest längst von einem Soloprojekt mit möglicherweise wie hinzugeladen wirkenden Musikern hin zu einer echten Band entwickelt haben. In der ein jeder seine Ideen einbringen und seine musikalischen Qualitäten ausleben darf, um am großen Ganzen mitzuwirken. Dass jeder Song für sich überzeugt und gleichzeitig alles miteinander Sinn ergibt, ist einer der vielen Vorzüge dieses, man muss es so deutlich sagen, großen Wurfs. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Toledo sich in den Abgrund hätte fallen lassen.
Highlights
- CCF (I'm gonna stay with you)
- The catastrophe (good luck with that, man)
- Gethsemane
- Planet desperation
Tracklist
- CCF (I'm gonna stay with you)
- Devereaux
- Lady gay approximately
- The catastrophe (Good luck with that, man)
- Equals
- Gethsemene
- Reality
- Planet desperation
- True/false lover
Gesamtspielzeit: 70:38 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Ituri Postings: 451 Registriert seit 13.06.2013 |
2025-05-18 12:47:38 Uhr
I never missed a prayer and I always did the dishes!!! |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34725 Registriert seit 07.06.2013 |
2025-05-17 12:36:04 Uhr
Und er von "Equals" ist derzeit mein Lieblings Mitschrei-Stück. Was für ein tolles Album. Ich mag sogar den Closer inwzischen, aber irgendwie hätte ich den lieber zwischen "Devereaux" und "Lady gay approximately" oder so. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34725 Registriert seit 07.06.2013 |
2025-05-16 21:39:44 Uhr
Der Refrain des Openers ist auch so zum Dahinschmelzen... generell nochmal ein Grower, obwohl ich den von Anfang an mochte. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34725 Registriert seit 07.06.2013 |
2025-05-15 00:28:06 Uhr
Ich will immer mal kurz reinhören und bleibe wieder komplett hängen. Was für ein Album. Hab inzwischen auch zwei weitere Leute angesteckt. Bitte bald mal Europatour. Damals auf dem Primavera war auch toll incl. "Paranoid Android"-Ausflug. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34725 Registriert seit 07.06.2013 |
2025-05-14 23:53:06 Uhr
Wenn CSH dir zusagen, dann definitiv "Worlds Apart". Jepp, die und ich finde ja auch "Tao of the dead". |
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Referenzen
1 Trait Danger; TV On The Radio; The Rapture; !!!; Talking Heads; The Who; David Bowie; Celebration; David Byrne; Moving Units; Radio 4; LCD Soundsystem; Gang Of Four; A Certain Ratio; Guided By Voices; Pavement; Robert Pollard; Sebadoh; Yo La Tengo; Stephen Malkmus And The Jicks; Belle And Sebastian; The Replacements; Dinosaur Jr.; Teen Suicide; Neutral Milk Hotel; Wire; The Magnetic Fields; The New Pornographers; Titus Andronicus; Spiritualized; Galaxie 500; Ride; Ringo Deathstarr; The Flaming Lips; Built To Spill; The American Analog Set; Deerhunter; Dirty Projectors; Klaxons; The Faint; VHS Or Beta; Julian Casablancas; Julian Casablancas + The Voidz; Beck; Bob Dylan
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