Elton John & Brandi Carlile - Who believes in angels?

Mercury / Universal
VÖ: 04.04.2025
Unsere Bewertung: 5/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Flügel-Klischees
Dass Elton John keineswegs 24/7 der liebenswürdige Süßholzraspler ist, als der er heute großteils medial wahrgenommen wird, erfuhr Brandi Carlile recht schnell. Mit seiner Meinung zu Carliles Textentwürfen hielt John nicht hinterm Berg. Während der nur dreiwöchigen Arbeit an ihrem gemeinsamen Album "Who believes in angels?" hagelte es schon mal ein "Fuck off, Brandi!" wegen klischeehafter Lyrics. Er wollte keineswegs eine "Elton-John-Platte" machen, rechtfertigte sich der Tastenmeister später gegenüber dem "Guardian". Ziel sei es gewesen, eine Herausforderung zu meistern. Und die habe er zusammen mit Carlile, so wollen es die Regeln der Selbstpromotion, letztlich mit Bravour gemeistert.
Ein sich selbst herausfordernder Elton John? Hatte man den nicht bereits vor vier Jahren auf "The lockdown sessions" gehört, einem Album, das mit zeitgeistigem Durchschnittspop und auf denkbar ungünstige Weise recycelten eigenen Hooklines irritierte? Mit Synthiepop, das verdeutlicht bereits "The rose of Laura Nyro", ist nun Schluss. Zwar hört man im Intro des Openers einen Synthesizer, der klingt allerdings verdächtig nach den frühen Siebzigern. Elton zurück auf der Yellow Brick Road? Ein kraftvolles Gitarrensolo, ein dem Stream of Consciousness folgender Text Bernie Taupins, der großteils synchron und schön schwärmerisch intoniert wird, eine von Laura Nyro geborgte Gesangslinie ("Eli's coming!") und ein fulminantes Finale mit Saxophon und Trompete: So ambitioniert wie in den ersten sechseinhalb Minuten des Albums klang der 78-Jährige lange nicht mehr.
Dann aber wollen Yeahyeahyeahs, Handclaps und Bläser im prototypischen Boogie-Woogie "Little Richard's Bible" ebenso penetrant für gute Laune sorgen wie Carliles an Shania Twain gemahnender Gesang und ein schlageresk klingender Synthesizer in "Swing for the fences". Zweifellos Material für einen kurzzeitigen Einsatz im retroorientierten Teil des öffentlich-rechtlichen Dudelfunks, aber definitiv nicht für die Jahresendlisten. Mit "Never too late" folgt eine bereits im vergangenen Jahr veröffentlichte, oscarnominierte Pianoballade, die man auf einem – nun ja – Elton-John-Album erwarten würde. Ist das erwähnenswert? Wäre es nicht, wenn der Meister selbst nicht erklärt hätte, er wolle kein Album aufnehmen, das nach ihm selbst klingt. Das tut es aber fast durchweg – mit Ausnahme der soliden carlileschen Akustikgitarrenballade "You without me". "As predictable as time and age / But comforting in some strange way." Du sagst (beziehungsweise singst) es, Brandi!
Den Titeltrack bereichert Carlile zunächst mit schön eingesungenen Strophen, um ihn im Refrain allzu aufgesetzt vokalisierend zu ruinieren. Nein, sie harmoniert musikalisch mit Reginald Kenneth Dwight nicht ansatzweise so gut wie Leon Russell auf dem weiterhin besten Elton-John-Album der letzten 40 Jahre. Während "The river man" und "A litte light" den Verdacht erwecken, Sir Elton hätte während der Arbeit am Album nicht nur noch mehr Texte zerreißen sollen, sondern auch Notenblätter, verdeutlichen die beiden abschließenden Songs, dass weitaus mehr möglich gewesen wäre. "Someone to belong to" verzichtet auf die gesanglichen Manierismen des Großteils der vorangegangenen Songs – und berührt, auch aufgrund der Tatsache, dass die stimmliche Performance des Endsiebzigers, wie auf dem gesamten Album, Respekt abnötigt.
Zum Schluss packt "When this old world is done with me" den lyrischen Holzhammer aus – im bestmöglichen Sinne: "When I close my eyes / Release me like an ocean wave, return me to the tide!" Das könnten nicht viele singen, ohne kitschig oder selbstmitleidig zu klingen. Elton John schon. Jede Zeile und jeder Anschlag des Pianos in diesen magischen vier Minuten verdeutlicht, dass hier einer der ganz großen Songwriter im Herbst seiner Karriere musiziert. Klischees am Flügel? Auch im Closer massenhaft zu finden. Was soll's, wenn sie so glaubwürdig und inbrünstig dargeboten werden! Hier hört man die Gravitas, die dem Großteil der durchwachsenen LP fehlt, eine Gravitas, die einen traurig werden lässt, weil sie einem in Erinnerung ruft, dass jedes Album des bei allen Wutausbrüchen so liebenswürdigen Mannes sein letztes sein könnte – auch "Who believes in angels?". Opener und Closer zeigen, dass es ein würdiges hätte werden können. So aber hofft man auf ein nächstes Mal und einen noch zerreißfreudigeren Rocket Man.
Highlights
- The rose of Laura Nyro
- When this old world is done with me
Tracklist
- The rose of Laura Nyro
- Little Richard's Bible
- Swing for the fences
- Never too late
- You without me
- Who believes in angels?
- The river man
- A little light
- Someone to belong to
- When this old world is done with me
Gesamtspielzeit: 44:03 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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ijb Postings: 7001 Registriert seit 30.12.2018 |
2025-04-11 19:03:23 Uhr
Nun ja, teils finde ich die Besprechung etwas irreführend. Der Bombast ist ja am Anfang enorm, und dann zwischendurch gibt es auch einige durchaus sensiblere Passagen. Das beste Elton-John-Album der letzten 40 Jahre ist allerdings natürlich "The Diving Board"; das bekommt 9/10. Da sind ein paar Meisterstücke drauf, speziell der phänomenale Titelsong. Meine persönlichen Kommentare und (erste) Meinung zu dem neuen hab ich auch mal aufgeschrieben: https://flowworker.org/2025/04/11/elton-und-brandi/ Besser als 5/10 ist das dann doch. Da wird doch mehr (und mehr Vielschichtigkeit) geboten, als in der Rezension gesagt... Wie bei Brandi Carliles sehr, sehr schönem Album "In these Silent Days" entfaltet sich der charmante Zauber nicht auf Anhieb. Ich freue mich vor allem auch, dass die beiden wirklich voll ins gute alte classic songwriting gehen und nicht so halbgare Pop-Nümmerchen basteln wie z.B, das eine oder andere auf den "Lockdown Sessions". Auch "Wonderful Crazy Night" hatte nahezu keine memorablen Songs, bleibt letztlich blass und ein bisschem lahm (also sehr viel eher die 5/10). |
Matze Postings: 21 Registriert seit 22.06.2013 |
2025-04-10 07:46:05 Uhr
Zu niedrig.Kein herausragendes aber ein gutes Album fast ohne Schwachstellen. Man muss nicht wie der Kollege Borcholte beim Spiegel gleich 8 und "Album der Woche" geben aber ne solide 7 ist es für mich allemal. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28503 Registriert seit 08.01.2012 |
2025-04-09 20:26:21 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
MickHead Postings: 4686 Registriert seit 21.01.2024 |
2025-04-04 08:44:06 Uhr
Komplette Playlist bei YouTube:https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_kyNSRuSCG6E3h2b28k8PyE1-fjF5mAwpY |
MickHead Postings: 4686 Registriert seit 21.01.2024 |
2025-03-05 19:06:20 Uhr
2. Song "Swing For The Fences"https://youtu.be/L6n9bzFRtnk?si=j_M-3w3Ke7LPJmkv |
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Referenzen
Bernie Taupin; Leon Russell; Todd Rundgren; Joshua Kadison; Little River Band; Billy Joel; Albert Ammons; Little Feat; Bruce Hornsby & The Range; Joe Cocker; Shania Twain; Sheryl Crow; Alanis Morissette; Aimee Mann; Laura Marling; Randy Newman; Chris Rea; Rod Stewart; Bruce Springsteen; T-Bone Burnett; Tom Odell; Dan Fogelberg; Harry Nilsson; Peter Cetera; Eric Clapton; Ryan Adams; Sting; Chicago; Crowded House; Neil Finn; Ben Folds
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