Ichiko Aoba - Luminescent creatures

Hermine / PIAS / Rough Trade
VÖ: 28.02.2025
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10

Von den Quallen lernen
Ichiko Aoba ist längst mehr als ein Geheimtipp in der globalen Folkszene. Das mag damit zusammenhängen, dass jeder ersten Begegnung mit ihrer Musik etwas Denkwürdiges anhaftet – der Eindruck, gleich einer sich öffnenden Blüte fundamental neue Weisen des Hörens und Sehens kennenzulernen. Schon vor mehr als zehn Jahren schuf Aoba auf dem Album "O" ihre eigene Formsprache. Teilweise zwölf Minuten lange Kompositionen nährte sie darauf bloß mit verschlungenen Gitarrenfiguren und einer Stimme, die Grenzen zwischen Wort und Laut verwischte, bis die Trance jedes Zeitgefühl aushebelte. Es folgten Soundtrack-Arbeiten, eine gemeinsame Tour mit Black Country, New Road und die Öffnung hin zu üppigeren Instrumentierungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt 2020 auf dem grandiosen "Windswept Adan" fand. Fünf Jahre später legt Aoba nun endlich den Nachfolger vor, der thematisch an dessen loses Konzept anknüpft: die Reise eines jungen Mädchens auf eine fiktive Insel und ihre Auseinandersetzung mit einem fremdartigen Ökosystem. Japanische Mythen und eine planetare Perspektive klingen zusammen. Auch "Luminescent creatures" prägt die Zusammenarbeit mit dem klassischen Komponisten Taro Umebayashi, auch hier sind Aobas Erzählungen untrennbar verwoben mit ihrer Umwelt. Folk, so scheint es, ist für Aoba eine Spielart des Ambient.
Der Hauch einer Stimme eröffnet "Coloratura", als puste Aoba ihre Welt aus dem Nichts. Flöten, Pianotupfer und eine Harfe verdichten sich sacht zu einer jazzigen Akkordfolge, die durch den Blätterwald geleitet, bis Aobas Gesang in der zweiten Hälfte die Lichtung einer Klavierballade erreicht. Die Instrumente knarzen, das Material atmet, fast meint man, die Finger auf Holz und Metall zu hören, so intim und organisch klingt "Luminescent creatures" durchgehend. Wenn Aoba ins Falsett geht, legt sie das Wispern unter der Oberfläche frei. Die englische Übersetzung ihrer japanischen Lyrik gibt Aufschluss: "Look up at that sky where borders melt / See how they melt." Schnell offenbart sich einmal mehr, dass Aobas Songs eher wie Kapitel eines eminent sinnlichen Hörspiels funktionieren. "Mazamun" operiert so nah an der Stille, wie es gerade noch möglich ist, in seiner radikalen Absicht, jedes Geräusch ernst zu nehmen. Sind das Tierlaute im Hintergrund? Mehrfach ertappt sich der Rezensent dabei, nicht mehr unterscheiden zu können, ob er einen Vogel vor dem Fenster oder in den Songs vernimmt. Es spielt keine Rolle, wenn Aobas Musik zur entgrenzenden Achtsamkeitsübung gerät.
Tauchgänge im Süden Japans haben "Luminescent creatures" seinen Rhythmus verliehen, erzählt Aoba, die sanft wiederholten Klavierarpeggi von "Tower" weichen vor und zurück wie die Fischschwärme, die sie dabei umgeben haben dürften. Alles greift mühelos ineinander in diesem Kreislauf: "Weaving drops of rain / As a gift for the bugs and roots / A message from mycelium". Auf früheren Arbeiten spielte Aoba häufiger mit Dissonanzen, diesmal zieht sie es vor, den komplexen und wendungsreichen Melodien ihre Klarheit zu bewahren. Wenn das elektronische "Pirsomnia" mit behutsam knisternden Störgeräuschen lauert, wirkt das eher, als begegne man einer seltsamen Lebensform unter Wasser. Bald verdeutlichen sich die besonderen Momente dieser verwunschenen Expedition. "Flag" benötigt nichts als eine zurückhaltende Nylongitarre und Aobas Gesangsharmonien mit sich selbst, die sich in den Köpfen der Hörenden zu geisterhaften Filamenten fortspinnen. Und dann umfängt das bewegende "Lucifèrine" mit Streicherteppichen, die an surreale Radiohead-Balladen wie "Daydreaming" oder "Pyramid song" erinnern. Benannt ist es nach Naturstoffen, die in verschiedenen biolumineszenten Organismen zur Erzeugung von Licht genutzt werden. Wenn der Closer "Wakusei no namida" nur aus Wind, Gitarre und Aobas warmer Stimme besteht, weiß man: Sie hat darin ihr berückendes Leitmotiv gefunden.
Highlights
- Coloratura
- Tower
- Flag
- Lucifèrine
Tracklist
- Coloratura
- 24° 03' 27.0" N 123° 47' 07.5" E
- Mazamun
- Tower
- Aurora
- Flag
- Cochlea
- Lucifèrine
- Pirsomnia
- Sonar
- Wakusei no namida
Gesamtspielzeit: 35:47 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Berni Postings: 269 Registriert seit 13.06.2013 |
2025-03-12 23:25:32 Uhr
Hey, das freut mich sehr, dass es diese Platte geschafft hat, vorgestellt und reszensiert zu werden, sogar mit einigen Hintergründen zu den japanischen Lyrics. Joanna Newsom als erste Referenz ist mir zwar nicht gleich in den Sinn gekommen, aber von der Instrumentierung etc. passt es tatsächlich ganz gut. Nur dass Ichiko Aoba noch intimer, näher, anmutiger, sanfter... einfach schöner klingt. Für mich tatsächlich ein 10/10-Kandidat. Anders kann ich es nicht bezeichnen, wenn ich wirklich vollkommen in dieser CD, in diesen Klängen, in dieser Stimme versinken kann. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28276 Registriert seit 08.01.2012 |
2025-03-12 13:11:43 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
Berni Postings: 269 Registriert seit 13.06.2013 |
2025-03-01 22:49:04 Uhr
@MickHead: Woher du auch immer die Zeit hast, so viel Neues in so kurzer Zeit zu hören und zu präsentieren: einige echte Perlen habe ich tatsächlich auch entdeckt. Gerne mehr aus dem Bereich Ambient/Folk/Neoclassical.Aobas Album habe ich mir nach den großartigen Hörproben auch bestellt, gestern kam es an. Einen Durchlauf habe ich mir bisher gegönnt. Insgesamt ruhig gehalten, aber mit vielen überraschenden Wendungen. Und diese Stimme! Ich denke, das wird was Großes, Besonderes werden. Für eine Albenbewertung ist es jetzt noch zu früh. |
MickHead Postings: 4119 Registriert seit 21.01.2024 |
2025-02-06 21:12:40 Uhr
Neuer Song "SONAR"https://youtu.be/YrXlDDvft8Q?si=lT3QeaUE07E64PJu |
MickHead Postings: 4119 Registriert seit 21.01.2024 |
2024-12-17 15:34:04 Uhr
Die japanische Singer-Songwriterin "Ichiko Aoba" aus Tokyo, kündigt für den 28.02. ihr 8. Studioalbum "Luminescent Creatures" an. Es folgt auf "Windswept Adan" von 2020.Genre: Alternative, Ambient Folk, Chamber Folk "Ichiko Aoba zuzuhören bedeutet, in eine Welt hineingezogen zu werden, die so intim ist wie ein warm beleuchtetes Zuhause, aber kosmische Ausmaße hat. Die japanische Sängerin, Songwriterin, Komponistin und Multiinstrumentalistin hat eine engagierte Online-Fangemeinde, die aus TikTok-Sounds aufgebaut und von der Kritik gefeiert wurde, in internationale Tourneen in mehr als 20 Ländern umgesetzt. Sie war in Japan bekannt – sie arbeitete mit Künstlern wie Haruomi Hosono, Cornelius und dem verstorbenen Ryuichi Sakamoto zusammen –, aber Windswept Adan verdiente sich die Bewunderung von Musikerkollegen wie Japanese Breakfast, Pomme und Weyes Blood. Aobas neuestes Album, Luminescent Creatures, ist der Höhepunkt ihrer 15-jährigen Karriere und zeigt, wie sie den jazzigen Folk gekonnt mit dem Aufbau einer orchestralen Welt verbindet. Die umweltfreundliche Verpackung ist ausschließlich auf Öko-Vinyl erhältlich und spiegelt Aobas tiefes Engagement für den Umweltschutz wider." "Luminescent Creatures" bei Bandcamp (2 Songs geteilt): https://ichikoaoba.bandcamp.com/album/luminescent-creatures-2 |
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Referenzen
Joanna Newsom; Adrianne Lenker; Mark Hollis; NUUAM; Mei Ehara; Hiroshi Yoshimura; Ryuichi Sakamoto; Haruomi Hosono; Vashti Bunyan; Nick Drake; Sufjan Stevens; Natalia Lafourcade; Masakatsu Takagi; Kaneko Ayano; Grouper; Mabe Fratti; Cassandra Jenkins; Weyes Blood; Beth Gibbons; Björk; Ringo Sheena; Fiona Apple; Yoshiko Sai; Toshifumi Hinata; Sybille Baier; Silvana Estrada; Japanese Breakfast; Alice Phoebe Lou; The Microphones; Mount Eerie; Joni Mitchell; Radiohead; Black Country, New Road; Talk Talk; Sigur Ros
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- Ichiko Aoba - Luminescent Creatures (5 Beiträge / Letzter am 12.03.2025 - 23:25 Uhr)