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Nadine Shah - Filthy underneath

Nadine Shah- Filthy underneath

EMI North
VÖ: 23.02.2024

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

She will survive

Nadine Shah sieht sich mit ihrer krebskranken Mutter die Tanzshow "Strictly come dancing" an und fängt an zu halluzinieren, nachdem sie sich selbst ein paar derer Medikamente eingeschmissen hat. Den daraus resultierenden Mix aus glitzerndem Eskapismus und schlechtem Trip fängt "Greatest dancer" perfekt ein, indem der Song einen überlebensgroßen Discoballaden-Refrain auf Tribal-Percussion, Synth-Säure und kurze Rave-Durchbrüche treffen lässt. Diese komplexe Szene ist nicht einmal der am schwersten zu schluckende Moment auf Shahs fünftem Album. Nach dem Release von "Kitchen sink" musste die Nordengländerin eine ganze Klaviatur menschlichen Leids überstehen: Tod der Mutter, Scheidung, Entzug, Suizidversuch. Dass "Filthy underneath" überhaupt existiert, ist alles andere als selbstverständlich, weswegen man dessen etwas irreführenden Titel gerne verzeiht – schließlich kehrt Shah all den Seelendreck nicht unter den Teppich, sondern befördert ihn an die Oberfläche. Klar, dass dies bei einer der eigenwilligsten und spannendsten Künstlerinnen der britischen Insel nur in Begleitung überragender Musik geschieht.

Von den ursprünglichen Nick-Cave- und PJ-Harvey-Vergleichen hat sich Shah inzwischen freigeschwommen und einen idiosynkratischen, betont rhythmischen Sound entwickelt, den die neue Platte fortschreibt. Aus alarmähnlichem Geräusch entspinnt der famose Opener "Even light" einen Post-Punk-Groove mit markantem Bass, der Shahs oktavenübergreifende Stimmakrobatik nach vorne treibt. In "Topless mother" geht es um eine Therapeutin, die bei erfolglos verlaufenden Sitzungen selbst in Tränen ausbricht, während der Refrain willkürliche Wörter wie "Iguana" oder "Viagra" samt Gitarren- und Bläser-Krach zu einer herrlich bekloppten Hymne vermengt. Das Leben kann sie noch so sehr mit Scheiße bewerfen, ihren Humor verliert Shah nicht. "Sad lads anonymous", ein an Dry Cleaning erinnernder Spoken-Word-Klapperer, holt zum staubtrockenen Rundumschlag aus, touchiert eine Wahlheimat "full of shite" ebenso wie verkorkste Backstage-Geständnisse: "The band left hours ago, according to the work experience kid that I'm currently telling all my deepest, darkest secrets to in a toilet cubicle. So damn typical."

Trost fand Shah allerdings nicht nur bei überforderten Praktis, sondern nach eigener Aussage auch bei iranischer und indischer Popmusik. Spuren davon finden sich in den Harmonien des Kuhglocken-Schleichers "Food for fuel", der mit der eigenen Identität ringt: "Why am I as I was before?" Anderswo zeigen sich klare Einflüsse von Depeche Mode, welche die Frau aus Sunderland zuletzt supportete. Arzttermine werden unter dem monotonen Beat von "You drive, I shoot" zum endlosen Paranoia-Trigger, ehe man in der abgrundschwarzen Ballade "Keeping score" durchgehend auf den Einsatz von Gahan oder Gore wartet. "The world is on fire, you are a lifeline", singt Shah, vermittelt damit Hoffnung inmitten eines erdrückenden Untergangsszenarios. Mehr in die Feels geht nur "See my girl", das der verstorbenen Mutter ein zärtliches Denkmal setzt: "I see her dressed in her leopard print / And I hear her singing out of tune / I am holding a note for her."

Generell werden die persönlichen Erfahrungen im Schlussdrittel von "Filthy underneath" expliziter und präsenter. "Twenty things" erzählt von Freund*innen aus der Entzugsklinik, die nicht alle mit einem positiven Schicksal beschieden waren, und erzeugt mit seiner Repetition einen regelrechten Verzweiflungsstrudel. Das ungewohnt bewegungsunfähige "Hyperrealism" schafft die Trümmer der gescheiterten Ehe beiseite und bereitet damit "French exit" den Weg. In diesem Closer behandelt Shah direkt ihren Suizidversuch, mit nüchternen Worten und ohne jede Romantisierung: "Blue polka dot top and matching trousers / Reapplied lipstick, a clown who counts the downers / Just a French exit, sliding off the dancefloor / But how close is it, the now until the no more." Sie rang damit, den Song aufs Album zu nehmen, doch bildet er mit seiner Einordnung des Vergangenen und den ausdrucksstarken Synths den einfühlsamen, lebendigen Abschluss einer völlig ungeschönt im Dreck wühlenden Platte. Und beweist nicht zum ersten Mal, dass nicht nur die Musikwelt ohne Nadine Shah ein bedeutendes Stück grauer wäre.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Even light
  • Topless mother
  • Greatest dancer

Tracklist

  1. Even light
  2. Topless mother
  3. Food for fuel
  4. You drive, I shoot
  5. Keeping score
  6. Sad lads anonymous
  7. Greatest dancer
  8. See my girl
  9. Twenty things
  10. Hyperrealism
  11. French exit

Gesamtspielzeit: 49:37 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Hierkannmanparken

Postings: 1785

Registriert seit 22.10.2021

2025-01-07 07:48:00 Uhr
Greatest Dancer hat einen krassen Refrain. Und die Strophe (zb ab 1:50) erinnert an Bloodbuzz Ohio, weiß nicht, ob es sonst wem so ging. Rhythmus und Melodie des Gesangs sind quasi identisch. (Grüße an Hasselhoff)

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 27844

Registriert seit 08.01.2012

2025-01-03 19:33:12 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

"Vergessene Perle 2024".

Meinungen?

Takenot.tk

Postings: 2185

Registriert seit 13.06.2013

2024-03-10 09:36:26 Uhr
Hab gestern mal nen ersten Durchgang gestartet (nicht ganz durch). Gefällt mir sehr gut, auch wenn es zum Ende vielleicht etwas lang wird, aber ich mag auch den Sound sehr, das rhythmische. Vier, fünf Songs stechen da schnell raus...

Blanket_Skies

Postings: 667

Registriert seit 21.09.2013

2024-03-04 23:02:12 Uhr
So mittlerweile hab ich es zehn mal durch und es spricht mich leider kaum an. Greatest Dancer und Twenty things kommen für mich noch am ehesten an die alten Stärken ran. Die anderen Songs sind mir zu zahnlos, auch die Elektronik wirkt eher verkopft und gibt den Liedern keinerlei Mehrwert. Aber puh, wenn man so liest, was sie durch hat, ist es erstmal schön dass sie noch da ist und wieder Musik macht. Trotzdem merkt man den Willen zur Veränderung mit jedem Album und hier wirkt es mehr gewollt als organisch gewachsen.

Blanket_Skies

Postings: 667

Registriert seit 21.09.2013

2024-03-03 21:38:44 Uhr
Ich habs auch noch nicht komplett geschweige denn aufmerksam durchgeschafft. Ich finde, sie hat ne tolle Stimme, aber mir gefielen die straighteren, bandorientierten Songs der ersten drei Alben einfach besser.
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