Cindy Lee - Diamond jubilee
Realistik
VÖ: 29.03.2024
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
Sehnsucht in 32 Kapiteln
Als David Lynch 1986 dem Roy-Orbison-Hit "In dreams" eine prominente Rolle im Soundtrack von "Blue velvet" zuwies, hatte das eine These zur Grundlage: Hier wohnt etwas, das es ans Licht zu zerren gilt. Anstatt der wohlig vertrauten Klänge eines charmanten Songs aus den frühen 60er-Jahren haftete "In dreams" im neuen Kontext irgendwie etwas Bedrohliches und Verstörendes an, als habe Lynch – ganz im Sinne seines Programms – das Unbewusste unter der vermeintlichen Behaglichkeit freigelegt. Cindy Lees monumentales Doppelalbum "Diamond jubilee", ein über 120 Minuten währender, verwunschener Roadtrip, leistet gewissermaßen Ähnliches. Zunächst kaum greifbar fädeln sich Melodien und Einflüsse ineinander, wiederholen und überlagern sich wie die Tagesreste vergangener Leben. Hinter Cindy Lee verbirgt sich Patrick Flegel, der manchen noch als Mitglied des kanadischen Indie-Quartetts Women ein Begriff sein dürfte. Mittels Crossdressing erschließt die Persona neue Perspektiven und lässt Identität porös werden. Das musikalische Repertoire speist sich zwar aus dem feingliedrigen Art-Punk seiner früheren Hauptband, doch passieren während dieser 32 Songs Dinge, die man in dieser Form noch nie gehört hat. "Diamond jubilee" wirkt wie ein Kompendium populärer Genres der vergangenen sieben Dekaden, gefiltert durch die singuläre Vision eines Künstlers, der ihre verlorenen Elemente sichtbar machen will.
Ein bluesiges Riff und ein hingetupfter Bass eröffnet die Reise im Titeltrack, der im Namen Syd Barrett mitzuflüstern scheint, jenen anderen schräg reflektierenden Diamanten der Rockgeschichte. Geisterhaft verwischen Stimmen und Bläser, mal klingen sie weiblich, mal männlich, dann wieder solchen Kategorien gänzlich enthoben oder wie dem Tonbandgerät eines Zeitreisenden entnommen. Die anfängliche Klarheit weicht rasch dem Fiebertraum von "Glitz", das cineastische Streicher mit fuzzigem Glam-Rock à la T. Rex verjagt, bevor im Outro zur Akustikgitarre Kirchenglocken läuten. Ohnehin imponieren die Gitarren auf "Diamond jubilee" immer wieder: Sie klingen gemeißelt und wandelbar zugleich, wenn ihre Soli den Gesetzen des Bewusstseinsstroms folgen oder filigran wie Spinnweben Flegels Motive nachzeichnen. Songs wie "Baby blue" konstellieren Surf-Leads zu schmachtendem Retro-Pop und Streicherbetten und betasten das Negativ alter Fotos von Brian Wilson, "Kingdom come" beglückt mit sommerlich flirrendem Melodiengewirr und auf den Wellen tänzelnden Rhythmen, kann seinem Weltschmerz aber nie vollends entsagen.
In den gemächlichen Tempi der meisten Songs, darunter diverser Instrumentals, kristallisiert sich die Sehnsucht als wesentlicher Bezugspunkt für Cindy Lee heraus. Ob in wunderschönen Balladen wie "Dreams of you" oder "All I want is you", das den Reiz des Aufbruchs besingt, aber auch dem krautrockigen "Flesh and blood" oder der sakralen Schwermut von "Le machiniste fantome": In beinahe jedem Erinnerungsraum, der als Idyll aufgesucht wird, schneidet sich Flegel an den Scherben eines früheren Traums. "Wild one", das wie eine Zeitlupenversion von The Byrds daherkommt, fleht zunächst liebevoll: "Don't tell me the party's over / My four-leaf clover." Das Ende resümiert knapp: "I can see right through you." Das Gewand kühler Eleganz, in das sich Cindy Lee kleidet, gestattet Sehnsucht erst in diesem Tauziehen der Gefühle: "There's no sense in calling out / For love that's unreal."
Um sich nicht zu verlieren in der schieren Menge an Songs – Flegel schrieb das Album über mehrere Jahre –, ist es ratsam, sich in kleineren Etappen zu nähern. Auch in der zweiten Hälfte bleibt der Eindruck eines psychedelischen Grundrauschens, das die Kompositionen verwischt und ihnen Ambivalenzen einschreibt. "Stone faces" begrüßt mit einer heiteren Doo-Wop-Basslinie, die von nachdenklichen Gitarrenfiguren kontrastiert wird, auch "Durham city limit" durchläuft einen atmosphärischen Wandel, beginnt schleppend und fliegt später zu Jangle-Pop der 60er-Jahre davon. Doch schon bald erweitern Flegel und sein multi-instrumentaler Weggefährte Steven Lind das Spektrum abermals: Dunkle Abbilder von Motown-Soul wabern wiederkehrend durch die Stücke. "Gayblevision" gemahnt mit seinen unheilschwangeren Synthies an Joy Division, wirkt zugleich, als lausche man der Jam-Session aus einem nahegelegenen Keller. Songs wie "If you hear me crying" oder "What's it going to take" werden von sägenden Noise-Ausbrüchen am Rande der Tonalität heimgesucht, die gedämpfte LoFi-Produktion saugt sie aber rasch wieder auf. Das tieftraurige "Government cheque" berückt mit zarten Harmonien und pointiert das Thema noch einmal anders: "I always thought I was falling in love / Bearing witness to a tragedy / I gave up running to your fairy land." Letztlich verlangt "Diamond jubilee" viel Geduld und eine Form der Aufmerksamkeit, die sich in der Trance einstellt. Stets entzieht es sich, ähnlich seiner Protagonistin Cindy Lee, den einfachen Antworten und Parolen, zelebriert die Suche nach der Utopie auch als Selbstaufgabe. "If you quit playing the game / You will never lose again", heißt es in "Deepest blue" – lange schon hat niemand mit solcher ästhetischer Konsequenz neue Abzweigungen alter Wege gefunden.
Highlights
- Diamond jubilee
- All I want is you
- Kingdom come
- Stone faces
- Government cheque
- What's it going to take
Tracklist
- CD 1
- Diamond jubilee
- Glitz
- Baby blue
- Dreams of you
- All I want is you
- Dallas
- Olive drab
- Always dreaming
- Wild one
- Flesh and blood
- Le machiniste fantome
- Kingdom come
- Demon bitch 3
- I have my doubts
- Til polarity's end
- Realistik heaven
- CD 2
- Stone faces
- Gayblevision
- Dracula
- Lockstepp
- Government cheque
- Deepest blue
- To heal the wounded heart
- Golden microphone
- If you hear me crying
- Darling of the diskoteque
- Don't tell me I'm wrong
- What's it going to take
- Wild rose
- Durham City limit
- Crime of passion
- 24/7 heaven
Gesamtspielzeit: 122:09 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Lucas mit K Postings: 55 Registriert seit 19.07.2024 |
2025-01-04 11:11:02 Uhr
Sehr schöne Rezension. Für mich eine 9/10. |
Deaf Postings: 3078 Registriert seit 14.06.2013 |
2025-01-03 20:23:55 Uhr
Bravo! Ich habe es letztes Jahr zumindest mal noch vollständig gehört. Sehr abwechslungsreich und unzählige tolle Songs. Ein Urteil könnte ich immer noch nicht fällen, aber sicher mindestens 8/10. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27837 Registriert seit 08.01.2012 |
2025-01-03 19:30:48 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. "Vergessene Perle 2024". Meinungen? |
7th Seeker Postings: 393 Registriert seit 13.06.2013 |
2024-12-30 18:35:52 Uhr
Das muss unbedingt bei den vergessenen Perlen berücksichtigt werden. Leider auch erst jetzt aufgrund anderer Jahresendlisten reingehört, nachdem ich es initial ein wenig übergangen habe auch weil es nicht auf Spotify war. Eigentlich auch kaum zu glauben, dass das nicht von Anfang an auf Vinyl verfügbar war, das klingt einfach so Vintage als dürfte es nur dieses eine Medium dafür geben. |
dreckskerl Postings: 10882 Registriert seit 09.12.2014 |
2024-12-05 00:34:46 Uhr
Inzwischen hab ich die dritte Jahresendliste mit "Diamond Jubilee" auf der eins gesichtet.Ich habe es weiterhin vergessen, wohl ein Fehler. |
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Referenzen
Women; The Microphones; Jim O'Rourke; Syd Barrett; The Clientele; Body Breaks; Chanel Beads; MJ Lenderman; Mount Eerie; Jessica Pratt; Julia Holter; Cassandra Jenkins; Bar Italia; T. Rex; Avey Tare; Waxahatchee; Dean Blunt; Bradford Cox; George Clanton; Ariel Pink; No Age; Horsegirl; Jackie Lynn; Black Country, New Road; Jockstrap; Nala Sinephro; Military Genius; N0v3l; Panda Bear; Animal Collective; Saturday Looks Good To Me; Spirit Of The Beehive; Spelling; Yves Jarvis; Caleb Landry Jones; Jack Name; Moon Diagrams; Damien Jurado; John Frusciante; Onetwothree; Gilla Band; Suicide; Swans; Wilco; Milton Nascimento; David Bowie; The Byrds; The Beach Boys; Gene Clark; Sonic Youth; The Velvet Underground
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- Cindy Lee - Diamond Jubilee (15 Beiträge / Letzter am 04.01.2025 - 11:11 Uhr)