Rat Boy - Suburbia calling
Hellcat / Indigo
VÖ: 04.10.2024
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
Die Vorstadtchamäleons
Schulkinder können bei der Vergabe von Spitznamen so grausam sein. Klara mit dem dicken Kassengestell wurde damals immer als Brillenschlange geschmäht, der mit Körperhaar reich gesegnete Bernd als Bärenbernd bezeichnet, und auch der Rezensent musste aufgrund minimal auffälliger Hörorgane einige Zeit mit dem Spitznamen Dumbo leben. Jordan Cardys Physiognomie brachte ihm einst auf dem Schulhof den Namen Rat Boy ein. Die Flucht nach vorn ist an solchen Stellen oft empfehlenswert, und so nutzte Cardy in einem Akt der Selbstermächtigung den Namen als Pseudonym für seine musikalischen Projekte. Wobei womöglich das Chamäleon ein besser geeignetes Patentier gewesen wäre: Denn ähnlich mühelos an den Hintergrund anpassungsfähig wie die Echse, fühlt sich auch der Engländer in einer Vielzahl von Genres zu Hause. Sein erstes Album "Scum" wirkte daher fast wie eine Compilation, wenn auch mit einer gewissen Schlagseite zu einer punkigeren Spielart britischen Raps à la The Streets. Für den Nachfolger "Internationally unknown" zog es Cardy über den großen Teich, wo er gemeinsam mit Rancid-Frontmann Tim Armstrong als Produzent ein energiegeladenes Punk-Album auf- und dabei sogar einen gewissen amerikanischen Akzent annahm.
Ein Blick auf die wenig subtile Cover-Gestaltung von "Suburbia calling" lässt jedoch keine Zweifel: Rat Boy sind, erstmals offiziell als Band und daher im Plural, zurück in der britischen Heimat. Der Albumtitel ist natürlich eine Stadtfluchtvariante des Klassikers von The Clash und bei weitem nicht der einzige Verweis in die Musikgeschichte. Vielmehr betrachten Rat Boy die britische Pophistorie als Gemischtwarenladen und bedienen sich mal lose und mal als Quasi-Zitat an Genres, Sounds, Themen und anderen Versatzstücken, und das mit der Begeisterung von Kindern am Süßwarenregal. Der Opener "Mob mentality" vermählt mit ungeheurem Drive und Leichtigkeit frühe Madness und Nuller-Indie der Marke Kaiser Chiefs. "Rudy's world" wird bevölkert von fröhlichem Ska-Punk, der sich im Refrain rotzfrech an Melodie und Text von Ashs Überhit "Girl from Mars" bedient. Wie es auch bei den klassischen Two-Tone-Hits während der zweiten Ska-Welle in den frühen Achtzigerjahren Usus war, liefern die groovenden "One in a million", "Every little helps" und "Badman" augenzwinkernde Milieukommentare über Kleinkriminalität und die Hoffnung auf großen finanziellen Erfolg, freilich möglichst ohne Aufwand.
Nicht zuletzt ist "Suburbia calling" auch ein loses Konzeptalbum über Essex, die Grafschaft nordöstlich von London, aus der Rat Boy stammen. Die frühen Blur grüßen hier nicht nur biografisch, sondern vor allem auch musikalisch. Der Titelsong über die Flucht aus der unbezahlbar teuren großen Stadt zum Preis provinzieller Vorstadt-Enge hätte ebenso auf deren "Modern life is rubbish" gepasst, wie das ebenso melodieselige, die Reiserichtung umkehrende "Daytrip to London". Für die originalen Blur-Vibes sorgt hier nicht zuletzt auch die Produktion von Regler-Veteran Stephen Street. Doch während für Damon Albarn und Kollegen bei deren "Essex dogs" anno 1997 in der Beschreibung der Heimat bereits dystopische Kälte dominierte, bauen sich Rat Boy im Sprechgesang des treibenden und überdrehten "Essex land" quasi ein "Country house". Und mit "Take my place" hauen Cardy und seine Rattenjungs zum Abschluss dann noch einen Britpop-Balladen-Moment raus, den auch die frisch versöhnten Brüder aus Nordengland gerne im Portfolio haben würden. All diese musikalischen Vorbilder sind zwar jederzeit greifbar genug, um Referenzen erkennen zu können, nahezu alle Songs bereiten jedoch so viel gute Laune, dass niemals Verstimmung angesichts manch nah an der Grenze zur Pastiche wandelnder Momente aufkommt. Diesem Lockruf der Vorstadtchamäleons sollte also unbedingt gefolgt werden.
Highlights
- Mob mentality
- Suburbia calling
- Take my place
Tracklist
- Mob mentality
- Rudy's world
- One in a million
- Best is yet to come
- Every little helps
- Suburbia calling
- Badman
- She's the one
- Essex land
- Handbags at dawn
- Day trip to London
- Boy wonder
- Take my place
Gesamtspielzeit: 43:54 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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BVBe Postings: 809 Registriert seit 14.06.2013 |
2024-11-14 14:25:19 Uhr
Irgendwie schön, mal wieder ein Britpop-Album zu hören. Ende der 90er war ich echt satt von diesem Musikstil, jetzt kriege ich beim Hören gerade angenehme Retro-Gefühle. Ein freundliches Album. Danke für den Tipp! |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27544 Registriert seit 08.01.2012 |
2024-10-07 20:13:29 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Lowlife; Blur; Madness; Kaiser Chiefs; The Kinks; Jamie T; The Specials; Arctic Monkeys; The Libertines; Jake Bugg; Lily Allen; Mr. Hudson & The Library; Supergrass; The Clash; The Beat; The Selecter; Maximo Park; The Fratellis; The Smiths; Buzzcocks; XTC; Franz Ferdinand; The Jam; David Bowie; The Style Council; Ian Dury & The Blockheads; The Ordinary Boys; The Streets
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- Rat Boy - Suburbia calling (2 Beiträge / Letzter am 14.11.2024 - 14:25 Uhr)