Robert Stadlober - Stadlober & Tucholsky – Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut
Staatsakt / Bertus
VÖ: 30.08.2024
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
Gänzlich staubfrei
Im Kino war Robert Stadlober diesen Sommer im Dokudrama "Führer und Verführer" als Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels zu sehen. Wie um die Dämonen der Geschichte abzuschütteIn, widmet sich der Schauspieler und Sänger in seinem nächsten Projekt dem Literaten Kurt Tucholsky, der einst eindringlich vor der Gefahr des politischen Extremismus und der Kriegstreiberei gewarnt hatte. Die Tour läuft bereits seit Januar 2024, ein von Stadlober herausgegebener Band mit Gedichten Tucholskys erschien gerade im Verbrecher Verlag, und nun gibt es Stadlobers Vertonungen von zwölf seiner Lieblingstexte aus der Feder des Berliner Schriftstellers und Journalisten unter dem ebenso sperrigen wie schönen Titel "Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut" auch auf Platte. Tucholskys wohl bekannteste Zitate "Satire darf alles" und "Soldaten sind Mörder" werfen trotz aller Verkürzung ein treffendes Schlaglicht auf seine pointierten Betrachtungen des Weltgeschehens und seinen leidenschaftlichen Pazifismus.
Beide Namen mögen zwar gleichberechtigt auf dem Cover stehen, tatsächlich nimmt sich Stadlober jedoch sehr zurück und stellt Tucholskys Texte ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dank zurückhaltender Instrumentierung und hauptsächlich von der Akustikgitarre getriebenen, luftigen Arrangements, entstehen sanfte, textlastige Indiepop-Songs, ohne jedoch jemals nach prätentiöser Gedichtdeklamation zu klingen. Bei zeitgenössischen Adaptionen älterer Werke ist ja oftmals davon die Rede, wie diese durch die Neubearbeitung entstaubt worden seien. Ein faszinierender Aspekt von Tucholskys gut 100 Jahre alten Texten ist jedoch, wie aktuell und frei von jeglicher Patina diese Verse auch heute noch wirken. Viele der Stücke sind dabei explizit politisch, und manche Parallele zwischen Tucholskys Weimarer Republik und heutigen Verwerfungen der politischen Landkarte drängt sich explizit auf. "Zuckerbrot und Peitsche" beschäftigt sich mit dem Drang zum Eskapismus und dem Verharren in Passivität angesichts dräuenden politischen Unheils und wird so zu einem Appell zu Meinungsstärke und Aktivismus, wie er aktueller nicht sein könnte. Ähnlich desillusioniert beschreibt die berührende Ballade "Die blonde Dame singt" Resignation und die achselzuckende "Na und?"-Mentalität des Bürgertums: "Der deutsche Bürger lässt sich ruhig treten / Er macht Geschäfte und trinkt biedres Bier." Mit viel Feuer und ausnahmsweise in sehr schrammelrockiger Gangart in bester Ton-Steine-Scherben-Manier bellt Stadlober Tucholskys Gedicht "'S ist Krieg" über zynische Kriegseuphorie in Politik und Industrie und mahnt vor einem bösen Erwachen. Wie eine Art Anti-Brecht erhebt Tucholsky jedoch kaum einmal den pädagogischen Zeigefinger und bleibt so immer lyrisch verspielter und bei aller eindeutigen Positionierung niemals dröge.
Stadlobers Auswahl beschränkt sich jedoch nicht nur auf politische Texte. "Der Pfau" ist das beißend spöttische Porträt eines eitlen, selbstdarstellerischen Mannes und lässt fast zwangsläufig an die Influencer-Kultur auf Social Media denken: "Ich will gefallen, immer nur gefallen / Ich bin ein schöner Pfau / Ich brauche kein Gehirn." Die Verstumpfung des Kulturbetriebs thematisierte Tucholsky in "An das Publikum", setzt dabei aber auch satirische Spitzen zur journalistischen Zurückhaltung "aus lauter Furcht, Du könntest verletzt sein". Heute würde man wohl sagen: Zur Vermeidung eines Shitstorms. Nicht zuletzt war Tucholsky auch ein Meister in der Beobachtung zwischenmenschlicher Dynamik. "Sie zu ihm" ist eine bittere Bestandsaufnahme einer Liebesbeziehung aus weiblicher Perspektive, von Stadlober mit flirrender Geige und immer wieder stockender Phrasierung kongenial umgesetzt. "Vorbei, verweht, nie wieder", heißt es in "Augen in der Großstadt" über die Flüchtigkeit zufälliger Begegnungen. Wie Robert Stadlober hier eindrucksvoll aufzeigt, gilt dies für Tucholskys unbedingt (wieder)entdeckenswerten Themen, Motive und Texte keinesfalls.
Highlights
- An das Publikum
- 'S ist Krieg
- Sie zu ihm
Tracklist
- Bellevue
- An das Publikum
- Der Pfau
- Nationale Verteidigung
- Zuckerbrot & Peitsche
- Im Käfig
- Die blonde Frau singt
- 'S ist Krieg
- Sie zu ihm
- Augen in der Großstadt
- Wo ist der Schnee
- Das Ideal
Gesamtspielzeit: 39:19 min.
Referenzen
Gary; PeterLicht; Ja, Panik; Element Of Crime; Tim Isfort Orchester; Tom Liwa; Blumfeld; Kante; Erdmöbel; Rio Reiser; Tocotronic; Die Sterne; Die Heiterkeit; International Music; Der Nino Aus Wien; Ludwig Hirsch; Voodoo Jürgens; The Go-Betweens; Bob Dylan; The Velvet Underground; Ton Steine Scherben; Udo Lindenberg; Lou Reed; Locas In Love; Jens Friebe; Die Türen; Tele
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