Nick Cave & The Bad Seeds - Wild god
PIAS / Rough Trade
VÖ: 30.08.2024
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Push the grey sky away
"We've all had too much sorrow, now is the time for joy." Die zentrale Zeile von "Joy" wirkt für den Nick Cave der vergangenen zehn Jahre ungewohnt, der Song an sich ist es nicht. Assoziativ treffen Piano-Ellipsen auf flächige Bläser und Warren Ellis' Ambient-Texturen, scheinen damit die genrelose Trauerbewältigung von "Ghosteen" fortzuschreiben. Doch wenn der "flaming boy" – ein Geist mit riesigen Sneakern, der wahrscheinlich wieder Caves verstorbenen Sohn Arthur repräsentiert – zur Freude aufruft und just in diesem Moment der Chor loslegt, wird ersichtlich, dass die emotionale Marschroute diesmal eine andere ist. "All across the world they shout out their angry words about the end of love / Yet the stars stand above the Earth / Bright, triumphant metaphors of love." Auf ihrem 18. Studioalbum "Wild god" öffnen sich Nick Cave & The Bad Seeds wieder mehr der Welt und predigen, sich im Angesicht von Schmerz und Zerstörung nicht dem Dunkel hinzugeben.
Musikalisch vollziehen die von Radiohead-Bassist Colin Greenwood unterstützten Australier ebenfalls eine Kehrtwende, indem sie einen volleren Bandsound auffahren, als hätten sie den Gospel-Rock von "Abattoir blues / The lyre of Orpheus" mit dem sphärischen Schleier der 2010er-Platten überzogen. Thomas Wydlers Drums treiben den eröffnenden "Song of the lake" nach vorne, Produzent Dave Fridmann verdichtet Streicher, Bass, Glocken und Chöre zu einer einzigen transzendentalen Ekstase – auch wenn der eine badende Frau bewundernde Protagonist seiner Vergänglichkeit nicht entfliehen kann: "He knew he would dissolve if he followed her into the lake / But also knew that if he remained upon the shore he would, in time, evaporate." Die Götter, die "Wild god" bevölkern, sind alt, fehlbar und sterblich. Wie ein "prehistoric bird" fliegt eine Präsenz über die Ruinen des Titeltracks, türmt sich mit einem mitreißenden Crescendo allerdings noch einmal auf. "Frogs" verschränkt biblische Brutalität mit dem Anblick unbekümmert hüpfender Frösche und unreligiösen Visionen: "Kris Kristofferson walks by kicking a can / In a shirt he hasn't washed for years." So verspielt hat Cave seit "Push the sky away" nicht mehr getextet.
Letztgenannter Track bezieht seine Anziehungskraft aus der konstant hochgehaltenen Intensität. Dahingegen beginnt das größte Highlight "Conversion" mit perkussiven Akzenten und suchenden Tasten wie ein "Skeleton tree"-Outtake, bevor es den Schalter zu einem wahnsinnigen Stück Noise-Soul mit entfesselten Stimmen umlegt "Touched by the spirit, touched by the flame", in der Tat. Auch das auf einem analogen Keyboard-Flackern bauende "Final rescue attempt" spielt seine größten Trümpfe erst am Ende aus, wenn Cave immer wieder die unkitschige Wahrheit "I will always love you" skandiert. Es ist nicht das einzige Liebeslied der Platte: "O wow o wow (How wonderful she is)" formt aus einem sonnigen TripHop-Gerüst samt Vocoder eine Würdigung von Anita Lane, Caves ehemaliger Partnerin und Bandkollegin. Kurz vor Schluss kommt sie in einer Sprachnachricht selbst zu Wort, erinnert sich an unbeschwerte Zeiten in London zurück, kichert, strahlt. Cave gedenkt den Toten, indem er sie wiederauferstehen lässt und seine Musik nicht mehr primär mit geisterhaften Gesten, sondern mit purem Leben füllt.
Im Vergleich zum druckvollen, stellenweise stürmischen Charakter der vorigen halben Stunde kommt das letzte Albumdrittel merklich zur Ruhe, bleibt aber hoffnungsvoll. "I told my friends that life was good / That love would endure if it could", beteuert Cave in der orchestralen Wohlklangsskulptur "Cinnamon horses". Im Anschluss erhellen die Bad Seeds die "Long dark night" mit einer klassischen, auf die späten Neunziger und frühen 2000er verweisenden Pianoballade, bevor "As the waters cover the sea" nur zwei Minuten braucht, um sein Abschlussgebet zu formulieren. Kein wilder Gott, keine machtlosen Beobachter mehr, sondern ein Erlösungsversprechen, an das man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Geringsten zweifelt. "Peace and good tidings He will bring / Good tidings to all things." Wenn sich ein Mensch Seelenfrieden verdient hat, dann ist es Nick Cave.
Highlights
- Song of the lake
- Wild god
- Frogs
- Conversion
Tracklist
- Song of the lake
- Wild god
- Frogs
- Joy
- Final rescue attempt
- Conversion
- Cinnamon horses
- Long dark night
- O wow o wow (How wonderful she is)
- As the waters cover the sea
Gesamtspielzeit: 44:25 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Felix H Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion Postings: 10087 Registriert seit 26.02.2016 |
2024-10-08 19:07:55 Uhr
Finde das Album auch wieder sehr toll, wenn auch einen Tick weniger berührend als die Vorgänger. Nick Cave und Gospel-Touch geht aber immer.Nick Cave und Dave Fridmann geht dagegen scheinbar weniger. Über Kopfhörer klingt das echt wie eine 96kbps-MP3, schade, |
Grizzly Adams Postings: 5314 Registriert seit 22.08.2019 |
2024-09-16 18:55:15 Uhr
Bin überrascht, wie gut ich das Album inzwischen finde. Besonders „Conversion“ hat es mir derzeit angetan. @Nick Cave: haste schon gut gemacht, mein Lieber. Schön, dass du nach all den Schicksalsschlägen weiterhin deiner Passion nachgehst und das machst, was du, sehr wahrscheinlich, am besten kannst… |
VelvetCell Postings: 7398 Registriert seit 14.06.2013 |
2024-09-16 09:05:48 Uhr
Ich hadere mit der Produktion, finde das Album an sich aber mittlerweile ziemlich super und bin wahnsinnig gespannt auf die Liveumsetzung. |
Lucas mit K Postings: 15 Registriert seit 19.07.2024 |
2024-09-15 11:32:27 Uhr
Jetzt am Wochenende endlich zwei Mal gehört. Sehr zugänglich, viel mehr als die letzten zwei Platten. Gefällt mir gut. Manchmal ist es natürlich reichlich Pathos, aber geschenkt. Besonders rührend die Lyrics in „Joy“: I saw a movement around my narrow bed / Oh, a ghost in giant sneakers, laughing, stars around his head […] He said, We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy Und dann der Chor. Toll. Brauche noch ein paar Durchläufe, um es zwischen den anderen Alben seiner Diskografie einzuordnen, aber es dürfte ziemlich weit oben mitspielen. |
AliBlaBla Postings: 6603 Registriert seit 28.06.2020 |
2024-09-10 14:49:28 Uhr
Nun, das ist natürlich Unfug, egal ist er mir auch hier nicht, ich finde es (im Vergleich zu dem von mir geliebten Cave&Ellis Album) etwas...bombastisch, erschlagend.Im MUSIKEXPRESS habe ich gelesen, das die BAD SEEDS die Produktion auch "überraschend" und "schwierig" fanden, ursprünglich war es puristischer, roher gedacht- und dann haben sie es "einfach so gelassen". Also nix mit geplant, wundert mich nicht, wieviel besser das Album klingen könnte. Aber lyrisch, gesangsmäßig, von den Themen her finde ich das Album wieder groß. ((...und evtl jetzt ma n dreckiges GRINDERMAN Ding? Ich wäre bereit...)) |
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Referenzen
Nick Cave; Nick Cave & Warren Ellis; Warren Ellis; Mick Harvey; Grinderman; The Birthday Party; The Boys Next Door; The Flaming Lips; Mercury Rev; Tindersticks; Scott Walker; Tom Waits; Leonard Cohen; American Music Club; Mark Eitzel; Gallon Drunk; Afghan Whigs; The National; Get Well Soon; Okkervil River; Elbow; Eels; Low; PJ Harvey; Marianne Faithfull; Nico; Anohni And The Johnsons; Swans; Mark Lanegan; Lou Reed; Van Morrison; Nick Drake; Glen Campbell; Neil Diamond; Elvis Presley
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