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Die Nerven - Wir waren hier

Die Nerven- Wir waren hier

Glitterhouse / Indigo
VÖ: 13.09.2024

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Liegen blank

"Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit." Kein Wunder also, dass das sechste Album von Die Nerven mit einem panisch anmutenden Marsch-Getrommel startet, und überhaupt treibt "Wir waren hier" mehr als nur Eskapismus an. Die Angst ist allgegenwärtig, sie sitzt in jeder Pore dieser Platte, kriecht aus dem prägnanten Bassspiel von Julian Knoth, Kevin Kuhns cholerischen Drums und aus Max Rieger, bei dem man nie ganz weiß, ob seine Riffs oder sein Gesang mehr Galle versprühen. Dass Die Nerven es dennoch schaffen, in fast jedem Song trotzdem einen Killerrefrain unterzubringen, ist nur die Hand, die sie zum Schein reichen, um damit wenig später eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Nein, auch die Vorgänger wie "Fake" oder das selbstbetitelte Album waren sicher keine Feelgood-Platten. Aber so elend schlechtwettrig, so buchstäblich apokalyptisch wie auf "Wir waren hier" war das Trio noch nicht unterwegs. Immer zwischen Wut und Ohnmacht pendelnd, saugt dieser Sound gnadenlos ein und schnürt die Luftzufuhr ab.

"Wir waren hier / Keine Pflanze, kein Tier / War so wertvoll wie wir." Lieder vom Ende der Welt singen sie, von der arroganten Selbstabschaffung der Menschheit, und wenn der Titeltrack den unfassbar wuchtigen Anfangslauf mit verhalltem Lärm abschließt, kann man nur noch staunen. "Warum hab ich Angst, aber Du nicht?", fragt Rieger im programmatisch betitelten "Das Glas zerbricht und ich gleich mit" zu einem instrumentalen Backing, das die Frage beantwortet, was passiert, wenn Shoegaze Paranoia und Fluchtreflexe entwickeln würde. "Wir nehmen die letzten Stunden fette Jahre gerne mit." Wenn überhaupt so viel bleibt, denn alles klingt wie fünf vor zwölf. Da muss die bassbetonte Hasstirade "Grosse Taten" kurz gehalten und auf einem ziemlich klaren Punkt gebracht werden: "Hab' ich Dir schon gesagt / Dass ich Dich gar nicht mag? / Du hast so viel gesagt / Aber nie etwas gesagt." Schleierhaft, wie sich diese wunderbar melodische Hook in gerade mal zweieinhalb Minuten trotzdem noch reinpresst.

Im Anschluss werden die Zügel gelockert, die Stücke weitläufiger. "Wie man es nennt" atmet Schwermut, erinnert an manche Momente von Riegers Projekt All Diese Gewalt und taucht aber ebenfalls in einen dreidimensionalen Sound ein. Fatalismus allerorten: "Ein Hoch auf die Jugend / Zum Glück ist sie vorbei." Man will nie mehr "Achtzehn" sein, lieber noch etwas mehr The Cures Hochphase einfließen lassen. "Nie mehr war ich so voll / Nie mehr so leer." Auch "Wir waren hier" behält die großen Gesten von "Die Nerven" bei und kann es sich noch mehr leisten. Sechs Songs lang ist es mit Abstand ihre beste Platte und vielleicht passt es ja zur Selbstsabotage, dass Die Nerven danach zwar nicht den Faden verlieren, aber eben nicht mehr den Eindruck vermitteln, sie spielten gerade um Leben und Tod. "Irgendwo zwischen jetzt und hier / Bin ich ganz bei mir", heißt es in "Bis ans Meer". Und doch hängt es zwischen den Stühlen, weiß nicht, ob nach oben oder nach unten zu schauen ist.

"Ich will nicht mehr funktionieren", äh, funktioniert dann eben doch als eine dieser energischen Hymnen, die sie im Schlaf in hoher Qualität aus dem Ärmel schütteln können. "Ich bin mir ziemlich sicher, man kann hier noch Prozesse optimieren / [...] / Ich hab' mich nie weniger für Eure ganze Scheiße interessiert" – fast fühlt man sich als Rezensent schon angesprochen. Weil's ja Quatsch ist, jetzt hier rumzukritteln, zu bemängeln, dass "Schritt für Schritt zurück" mit etwas zu banalem Lyrics – "Denn ich mache ständig nichts / Immer weiter" – genau das tut, was sein Titel andeutet, weil der intensive, mit schier unerbittlicher Gewalt plattdrückende Closer "Disruption" ja doch wieder das Feuer aus den Kohlen holt. "Ich steige aus der Unterwelt / Lockere den Druck, der mich zu ersticken droht / Frei sein ist so ungewohnt." Voller und voller wird der Sound, bis tatsächlich die beschriebene Lockerung durch verglühendes Feedback eintritt. Die folgende Stille macht es unmissverständlich deutlich: Sie waren hier. Mit großem Fußabdruck.

(Felix Heinecker)

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Highlights

  • Das Glas zerbricht und ich gleich mit
  • Grosse Taten
  • Wir waren hier
  • Achtzehn

Tracklist

  1. Als ich davonlief
  2. Das Glas zerbricht und ich gleich mit
  3. Grosse Taten
  4. Wir waren hier
  5. Wie man es nennt
  6. Achtzehn
  7. Bis ans Meer
  8. Ich will nicht mehr funktionieren
  9. Schritt für Schritt zurück
  10. Disruption

Gesamtspielzeit: 38:15 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Hierkannmanparken

Postings: 1355

Registriert seit 22.10.2021

2024-10-08 14:24:13 Uhr
Die politischen Songs sind aus einer individuellen Perspektive geschrieben. Keine gesellschaftlichen Kampfansagen, sondern die Frage, was die aktuellen Krisen mit mir persönlich machen (zb "Warum hab ich Angst, aber du nicht?"). Also aus einer subjektiven und irgendwie politikverdrossenen Haltung heraus an gesellschaftliche Themen heranzugehen, sodass sich daraus trotz der Subjektivität ein allgemeines Grundgefühl ergibt: das verbinde ich mit Tocotronic.

Und in einer parallelen Realität, in der Tokio Hotel ernstzunehmende Künstler sind und geilen Indie machen, schreiben sie Songs wie 18 oder Wie man es nennt.

Das nochmal als Erläuterung zu meiner Assoziation "Tokiotronic"

Hierkannmanparken

Postings: 1355

Registriert seit 22.10.2021

2024-10-08 14:05:08 Uhr
Tokiotronic ging mir beim Hören als Assoziation so durch den Kopf.

Aber mir gefällt's!! :D

Auf das rhythmisch leicht vertrackte Ende vom Titeltrack freu ich mich schon live.

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 20062

Registriert seit 10.09.2013

2024-10-04 22:14:13 Uhr
Eine der ganz wenigen deutschsprachigen Bands, die mich noch begeistern können, und "Wir waren hier" verfestigt diesen Eindruck. Allein schon "Das Glas zerbricht...", wahnsinnig guter Song.

Fireburnsinsideme

Postings: 2

Registriert seit 27.09.2024

2024-09-28 08:46:02 Uhr
Ich muss gestehen ich bin ein Hififreak. Die ersten Nerven Alben hören sich roh, direkt aufs Maul , eben Punkmäßig, sehr an, so soll das sein, so habe ich die Band schätzen und lieben gelernt. Ich weiß es nun aber zu schätzen bei den neueren Alben den Sound und die Spielerische Klasse die Die Nerven ohne Zweifel besitzen, besser zu erfahren , die Dynamik geht mehr in die Tiefe weil mehr Feinheiten zu hören sind. Wir Waren Hier hört sich sehr fresh und direkt an und das in fettem Breitband Sound, da bekomme ich nen Kick wenn die Band voll loslegt, auch in den ruhigeren Phasen und das Zuhause vor der Anlage und nicht nur auf den Live Gigs. Wir Waren Hier ist Die Nerven auf Highend Level, alles richtig gemacht Jungs

Felix H

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 10087

Registriert seit 26.02.2016

2024-09-27 14:02:25 Uhr
"Fake" ist für mich im Klang aber schon ein klarer Schritt zum vollen Sound der letzten beiden Alben. Mir gefällt die Band auch damit besser, "Fluidum" und "Fun" finde ich schwachbrüstig, "Out" zu übersteuert.
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