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Clairo - Charm

Clairo- Charm

Virgin / Universal
VÖ: 12.07.2024

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Nähe und Entrückung

Schon der famose Vorbote "Sexy to someone" deutete vor ein paar Wochen an, in welche Richtung Clairos drittes Album "Charm" weisen könnte. Auf der einen Seite flirty und keck, auf der anderen von einer melancholischen, verletzlichen Sehnsucht getragen, gelingt es dem Song, sein komplexes Wirrwarr an Gefühlen in federleichter Pop-Finesse aufzufangen. Die tänzelnden Basslinien, weiträumigen Klavierakkorde und lässigen Drums verleihen eine angenehme Retro-Soul-Note, die Bridge ziert eine charmante Klarinetten-Melodie – von Clairo selbst eingespielt, weswegen Fankreise das Instrument nun liebevoll in "claironet" umgetauft haben. Für die Produktion zeichnet sich diesmal der Soul-Spezialist Leon Bridges verantwortlich – ein Glücksgriff, der sowohl die Indie-Sensibilitäten der ganz jungen Claire Cottrill, als auch ihren zuletzt zunehmenden Hang zu ausgefeilteren Arrangements, wie sie der folkige Vorgänger "Sling" präsentierte, unter einen Hut zu bringen vermag. Im Kern ist auch "Charm" ein Album einer Singer-Songwriterin, jedoch eines, das beständig ausstrahlt und nach anderen Ausdrucksformen sucht. Eine Slide-Gitarre läutet die eröffnende Ballade "Nomad" ein, deren Refrain sodann eines der zentralen Themen des Albums zuspitzt: "I'd rather be alone than a stranger." "Charm" besingt immer wieder eine zarte Distanz zur Umwelt, die weit entfernt ist von kitschiger Einsamkeitsromantik, vielmehr das Imago einer Bindung in ihrem fortwährenden Entzug zu begreifen sucht. Daraus entsteht ein ungemein stilvolles, atmosphärisch dichtes und subtiles Album.

Trotz der dezidierten ästhetischen Handschrift nickt "Charm" stets auch früheren Inkarnationen Clairos zu, verknüpft diese mit Explorationen neuartigen Terrains. Während "Add up my love" neben "Sexy to someone" als poppigste und eingängigste Nummer aufscheint, die schwungvoll Rituale einer Liebe in die Luft zeichnet – "do you miss my hand singing in your neck?", fragt Clairo, um sogleich zu zweifeln: "Is it ever enough?" – wagt sich insbesondere die zweite Albumhälfte stellenweise weit aus dem Bereich des Erwarteten heraus. "Terrapin" gibt sich mit auf- und absteigenden Bassskalen und seinem Pianosolo offen jazzig, die Schlieren in der Gesangsproduktion summen aber auch Lo-Fi- und Vaporwave-Elemente mit. "Juna" fährt einen zurückgelehnten, synkopierten Old-School-HipHop-Beat auf, der bei A Tribe Called Quest nicht fehl am Platz wäre, um darüber verspulte Harmonien, perlende Klavierläufe und ein klirrendes Vibraphon zu inszenieren. "Most of these days I don't get too intimate", bekennt Clairo durch Rauchwolken hindurch, macht es sich in der Desorientierung gemütlich. Und "Echo" trägt einem anderen musikalischen Vorbild Rechnung, wenn es Bossa-Nova-Rhythmen à la Joao Gilberto mit nachdenklich entrückter Indietronica konstelliert, die nicht fernab von Bands wie Broadcast und The Clientele liegt.

Dieses breitgefächerte Sammelsurium unterschiedlicher Referenzen zu einem derart kohärenten Klangbild zusammenzuführen, von einer psychedelischen Brise – und, wie in "Second nature", gesampletem Kichern – getragen, ist eine beeindruckende Leistung. Sie trägt dem musikalischen Wissensdurst ihrer Interpretin Rechnung, die zuletzt immer wieder in Radio-Shows das Gespür für Musik abseits des Mainstreams demonstrierte, dort entsprechend eigene Entdeckungen kuratierte. Mit welcher Feinheit Leon Bridges dieser Leidenschaft eine klangliche Heimstätte bereitet, führt noch einmal "Glory of the snow" vor. "I can feel there's something in the between", singt Clairo vor einer ätherisch-schwebenden Produktion; es klingt programmatisch: Zeitweilig wirkt es, als wären die Streicher und Gitarre eher bloße Schwingungen in der Atmosphäre als eigenständige Instrumente, so leichtfüßig kommt der Song daher – "I heard the rustling leaves". Der großteils akustische Closer "Pier 4" resümiert die emotionale Reise der elf Lieder: "If you need to disappear you have no reason to be sad at all." Gemeinsam mit Clairo sitzt man im Bauch der gezupften Gitarre, bis die Echos der Hamonien die Einsamkeit behaglich machen. Ohnehin haben die sich regelmäßig doppelnden und ergänzenden Gesangsspuren hier schon längst verzaubert ob ihrer dezenten Kraft, die einmal mehr an Elliott Smith erinnert. Wie viel Nähe schlummert in der Entrückung!

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights

  • Sexy to someone
  • Juna
  • Echo
  • Pier 4

Tracklist

  1. Nomad
  2. Sexy to someone
  3. Second nature
  4. Slow dance
  5. Thank you
  6. Terrapin
  7. Juna
  8. Add up my love
  9. Echo
  10. Glory of the snow
  11. Pier 4

Gesamtspielzeit: 38:02 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

bender

Postings: 153

Registriert seit 03.04.2020

2024-12-09 12:03:01 Uhr
kann die fehlende Begeisterung hier nicht so nachvollziehen. kommt aber offenbar auch in den Jahresendlisten bei den Kritikern gut weg.

"Sexy to someone" ist einer der coolsten Songs des Jahres.

(und danke für das Lana Cover, Brooklyin Baby ist einer der besten Lana Songs)

Arne L.

Postings: 1719

Registriert seit 27.09.2021

2024-12-05 05:01:25 Uhr
Neues Video zu "Sexy for someone":

https://youtu.be/iUxlnNnAoTc?si=1iYU9cyKB5VFB_lN

Arne L.

Postings: 1719

Registriert seit 27.09.2021

2024-10-17 10:37:07 Uhr
Finde das Album auch irgendwo zwischen 7 und 8 und könnte es bei mir knapp in die Jahresliste schaffen.

Sie ist übrigens auch am "Hope is a knife" vom neuen sehr guten Mustafa-Album beteiligt.

Reine Randnotiz: Monthly listeners bei Spotify tatsächlich auch aktuell bei über 20 Mio, also nach Release ordentlich zugenommen.

Kojiro

Postings: 4381

Registriert seit 26.12.2018

2024-08-11 07:06:26 Uhr
Finde ich ebenfalls auf Albumlänge eher langweilig.

Aber sehr schönes Lana-Cover:

https://www.youtube.com/watch?v=ctIYeZqLb_I

keeeyt

Postings: 122

Registriert seit 17.08.2023

2024-07-22 14:08:44 Uhr
Ja muss leider zustimmen. Insgesamt bisschen zu langweilig. Aber die Erwartungen waren auch sehr hoch.
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