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John Grant - The art of the lie

John Grant- The art of the lie

Bella Union / PIAS / Rough Trade
VÖ: 14.06.2024

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Die Zerreißprobe

Die Beziehung zu den eigenen Eltern gehört zu den wichtigen Topoi in der Musik, wenn nicht sogar in der gesamten bildenden und darstellenden Kunst. Ob diese nun bereichernd, schwierig, ambivalent oder schlicht toxisch ist – das haben neben Madonna ("Papa don't preach"), Queen ("Father to son"), Genesis ("Mama") und Pink Floyd ("Mother") schon ganze Heerscharen von Musiker*innen abgehandelt, wenn auch in recht unterschiedlicher Schaffenstiefe. Noch schwieriger wird es, wenn die Eltern-Kind-Beziehung nicht nur durch erzieherische Standardkonflikte ("Mit solchen Schuhen kannst Du doch nicht rumlaufen!") aufgerieben wird, sondern durch weltanschauliche Fragen – wenn es also um Religion, Politik oder sexuelle Orientierung geht.

Einer, der diesbezüglich besonders viele Konfliktpunkte abräumt, ist bekanntermaßen John Grant. Wie sollte es auch anders sein, wenn man im puritanischen Colorado als Sohn erzkonservativer und strenggläubiger Eltern aufwächst – und entdeckt, dass man schwul ist? Um dann eine HIV-Infektion zu erleiden und später öffentlich als zweites Outing bekanntzugeben? Wie Eltern mit solchen Krisen, Lebensanschauungen, Orientierungen und Weltsichten umgehen, hat entscheidenden Einfluss auf die Resilienz und Stabilität, mit der man aufwächst. In dieser Hinsicht hat John Grant wohl maximales Pech gehabt – aber sein großer Verdienst ist es, dass er diese Konflikte und Zerwürfnisse authentisch vertont. Womit wir nach einer zugegeben ausführlichen Einleitung jetzt auch endlich beim Album wären.

Was das queere Leben häufig auszeichnet (wenn auch nicht definiert), ist der Zwiespalt zwischen hedonistischen Ausschweifungen auf der einen Seite – und dem ständigen Zwang, seinen Lebensentwurf zu rechtfertigen und verteidigen. Diese Zerrissenheit zwischen überschäumender (Lebens-)Lust und ständiger psychischer Anspannung wurde wohl selten so intensiv und packend musikalisch wie textlich ausbuchstabiert wie in "The art of the lie". Denn durch dieses Album geht in der Tat ein nahezu tektonischer Riss. Da sind auf der einen Seite ungemein tanzbare und hart überproduzierte Disco- und G-Funknummern wie der Opener "All that school for nothing", wo man sich nach den ersten Takten erst mal fragt, ob man versehentlich die neue Bootsy-Collins-Scheibe aufgelegt hat. Oder auch "Meek AF" – hier klingt es fast, als wären Kraftwerk als Achtziger-Jahre-Disco-Truppe wiederauferstanden.

Auf der anderen Seite jedoch geht es komplett ans Eingemachte. "Father" beispielsweise ist vor lauter Intensität fast nicht zu ertragen. Unheilvoll schwärende Synthie-Sounds und ein fast schon mantraartiger Strophengesang treffen auf einen musikalisch strahlend-hellen Refrain, in dem Grant geradezu verzweifelt die Nähe seines Vaters herbeiwünscht: "And sometimes I just want to run into your arms / And let you hold me, once again / I feel ashamed because I couldn't be the man / You always hoped that I would become." Und dann legt Grant mit "Daddy" noch ein ähnliches Kaliber nach: Hier wird der Vater geradezu als gottgleiche Naturgewalt angerufen, die man zwar erleben, aber niemals für sich gewinnen kann: "Daddy, you're like the ocean / You're like the waves crashing."

Auch Grants Mutter bekommt ihr Fett weg: "Mother and son" beginnt mit der 100 Sekunden langen Einspielung einer mütterlichen Schimpftirade, die zunehmend verzerrt wird und mehr und mehr in den Hintergrund rückt – um dann in eine vergebliche Evokation mütterlicher Gefühle überzugehen: "What was it like when you welcomed your son on that day, mother? / Did your love eclipse everything you'd ever known?" Schnell wird klar, dass der Protagonist darauf bis heute keine befriedigenden Antworten gefunden hat. Und dann ist da noch eins: Für jemanden, der ein so guter Sänger wie John Grant ist, werden Voice-Effekte (Autotune und Vocoder) geradezu verschwenderisch benutzt. Warum denn nun das? Vermutlich ist das der Trick, der dieses Album gerade erst möglich gemacht hat. Weil es so unfassbar intim und privat ist, dass die künstliche Verbiegung der Gesangsstimme genau das notwendige Maß an Brechtscher Verfremdung und Seelenimprägnierung leistet, damit es eben nicht in totalen Kitsch und Pathos umkippt. Was am Ende bleibt, ist eine Gewissheit: Hier lebt einer ein Leben, das höchste Höhen und tiefste Tiefen kennt. Und der es bisher geschafft hat, diese Zerreißprobe zu meistern und daraus Kunst zu machen.

(Jochen Reinecke)

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Highlights

  • Father
  • Daddy
  • Mother and son

Tracklist

  1. All that school for nothing
  2. Marbles
  3. Father
  4. Mother and Son
  5. Twistin scriptures
  6. Meek AF.
  7. It's a bitch
  8. Daddy
  9. The child catcher
  10. Laura Lou
  11. Zeitgeist

Gesamtspielzeit: 61:50 min.

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User Beitrag

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 28508

Registriert seit 08.01.2012

2024-06-12 16:14:52 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

Meinungen?


MickHead

Postings: 4731

Registriert seit 21.01.2024

2024-05-14 20:47:48 Uhr
Neuer Song "All That School For Nothing"

https://www.youtube.com/watch?v=5IjCTCEp8MM

MickHead

Postings: 4731

Registriert seit 21.01.2024

2024-04-18 00:12:23 Uhr
Neuer Song "The Child Catcher"

https://youtu.be/H07WH_wow14?si=Q9a2JdnI-rntEHEi

Lichtgestalt

User

Postings: 6416

Registriert seit 02.07.2013

2024-03-20 00:08:28 Uhr
Danke für den Tipp.
Hatte John Grant 2016 live gesehen, war begeistert - und ihn dennoch anschließend etwas aus den Augen verloren.
Bin gespannt.

MickHead

Postings: 4731

Registriert seit 21.01.2024

2024-03-19 19:44:38 Uhr
Der 14.06. scheint ein gutes Datum zu sein. Nach "The Decemberists", kündigt auch "John Grant" ehem. The Czars, sein neues Album "The Art Of The Lie" an.

The Art of the Lie
1. All That School For Nothing
2. Marbles
3. Father
4. Mother And Son
5. Twistin Scriptures
6. Meek AF
7. It’s A Bitch
8. Daddy
9. The Child Catcher
10. Laura Lou
11. Zeitgeist
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