Belgrad - Lysis

Zeitstrafe / Indigo
VÖ: 26.04.2024
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Runter kommt man immer
Es soll ja Leute geben, die wollen ihre Musik leicht und eingängig. Ein bisschen gute Laune in Form von konstantem Begleitrauschen, bei dem jede Ecke und Kante ein Problem wird, dem man lieber aus dem Weg geht. Für solche Menschen dürfte die Musik von Belgrad eine Abwärtsspirale in die persönliche Hölle sein. Denn schon auf ihrem Debütalbum haben die Musiker aus Berlin und Hamburg von zermürbenden Kriegen gesungen, von Gewalt und Frustration. Sieben Jahre nach der selbstbetitelten Platte zermürbt "Lysis" erneut – auf noch raffiniertere und faszinierendere Art.
Am Anfang grüßt erst einmal die bekannte Stimme von Jürgen Vogel, der im sechsminütigen "Prolog" als Gast die Geschichtsschreibung infrage stellt, weil er die Integrität der Autoren hinterfragt. Nach diesem scheinbar fantastischen Intro erdet das Szenario von "Rachel & Joseph" auf gruselige Art, ist es doch von der realen Tragödie von Rachel Nguyen und Joseph Orbeso inspiriert, die sich beim Wandern im Joshua Tree Nationalpark verliefen und nach mehreren Tagen wohl keinen anderen Ausweg mehr sahen als den Suizid. Der Song ist eine geduldige Erzählung von fast sieben Minuten, der in seiner Form an "Der Tag wird kommen" von Marcus Wiebusch erinnert und an dessen Ende der einzige Trost bleibt, dass das Paar nicht alleine gestorben ist. Solche Tragödien erzählen Belgrad fast neutral beobachtend, stünde da nicht eine gewisse Poesie dahinter, wie beim Balanceakt in zweihundert Metern Höhe auf Moskauer Dächern und Kränen in "Schwanensee", in dessen Mitte man den russischen Geschichten eines Vaters lauscht, bis Gitarren mit Gewalt in den Raum eintreten und die Grausamkeit zur Regelmäßigkeit und Routine erklären: "Und im Fernsehen lief 'Schwanensee' in Dauerschleife / So wie immer, wenn etwas Schreckliches geschah."
Dabei ist die Post-Punk-Band manchmal sehr direkt wie in der groovenden Kapitalismuskritik "Markt fressen Seele", die einen perfekten Parolenrefrain zum Mitgrölen ins Regal stellt. Oder mal deutlich kryptischer wie in der Die-Erde-Coverversion "Leben den Lebenden", die bei ihrer assoziativen Aufzählung von einem stoischen Bass nach vorne geschubst wird. Oder in "Die weiße Mühle", das mit einem 80er-Synth-Bass und NDW-Ästhetik lockt, dann allerdings die Harmonien kippt und langsam panischer wird. Umherirrende Menschen suchen nach einer weißen Mühle, die Erlösung und Untersterblichkeit verspricht. Dass das Happy End ausbleibt, gehört auf "Lysis" zum Konzept: "Und zwischen all den lauten Gesprächen / Ablenkungen, dem Lärm, der schweren Angst / Steht sie stumm / Zermahlend, Zähne, Knochen, Zeit, lautlos und konstant / Zieht sie Mensch um Mensch in sich hinein." In den zwölf Songs verlieren die Menschen meistens den Kampf gegen die Traurigkeit. "WSW" ist eine schleppende, todtraurige Leier, in der genauso oft gesprochen wie gesungen wird und in der die jährlichen Weihnachtslichter nichts Romantisches in sich tragen, sondern daran erinnern, dass schon wieder 365 Tage vorbeigegangen sind.
Dabei geht "Eine kurze Geschichte der Einsamkeit II" nicht davon aus, dass Einsamkeit unser Naturzustand ist, sondern durch eine Zäsur herbeigeführt – Konflikt, Krieg, Tod. So wird der Song in der Mitte auch von einem Bass zersägt und seine zweite Hälfte lebt mit verheißungsvoller Gitarrenmelodie weiter und wird von der harmonischsten Gesangspassage des Albums wieder instandgesetzt. Ein anderer kurzer Moment der Harmonie findet sich in "Agnetha", das Würde auch in engen vier Wänden und mit leerem Kontostand findet. Etwas vorsichtige Euphorie, bei der die Protagonistin mit "Bürste in der Hand" als Mikrofon vorm Spiegel steht und kurz sogar an die Utopie glaubt, dass Armut überwunden werden kann, wenn es heißt: "There the winner takes it all." Mit kreischenden Gitarren ist das fast Hoffnungs-Rock. Hoffnung, die bei Belgrad nie lange Bestand haben kann. Kurz vor Schluss haucht "40 Grad" bei bestem Wetter die letzte Lebensenergie aus, strauchelt wippend zu Synthies aufs Ende zu, geht in der Menge unter, friert mitten in der Herde und verhungert im Gedränge: "Im Schatten zu stehen, auf freiem Feld / Zu erfrieren, mittags, im Sommer bei 38 Grad."
Isolation und Einsamkeit sind die Ecken und Kanten, die die Gefühlswelt durcheinander bringen. Ecken die schmerzen, Kanten die Narben hinterlassen. Im "Epilog" wird dann noch mal klar, dass es manchmal weniger um den Grund geht, sondern das Resultat. Das System schert sich nicht um die Schuldfrage, wenn im hörspielartigen Erzählmonolog ein System – ob nun Sozialismus oder Kommunismus – den Bach runtergeht und Paranoia die Struktur von innen zerfleischt, ohne den Feind genau identifizieren zu können. Knapp sechseinhalb Minuten pointierte und souveräne Erzählweise als mahnendes Echo. Wer seine Musik leicht und eingängig mag, sollte um "Lysis" einen großen Bogen machen. Für das Gefühl, das man nach dieser Doppel-LP hat, wäre "mulmig im Magen" eine abgrundtiefe Untertreibung.
Highlights
- Rachel & Joseph
- Markt fressen Seele
- Eine kurze Geschichte der Einsamkeit II (feat. Colin Murphy)
- Agnetha (feat. Colin Murphy)
Tracklist
- Prolog (feat. Jürgen Vogel)
- Rachel & Joseph
- Markt fressen Seele
- Leben den Lebenden
- Schwanensee (feat. Ilya Kurtev)
- WSW (feat. Johann Plietzsch)
- Stahl
- Die weiße Mühle
- Eine kurze Geschichte der Einsamkeit II (feat. Colin Murphy)
- Agnetha (feat. Colin Murphy)
- Albtraum
- Verdammter Fleck
- 40 Grad
- Epilog
Gesamtspielzeit: 74:01 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Hierkannmanparken Postings: 2190 Registriert seit 22.10.2021 |
2024-12-04 11:13:18 Uhr
Wenn sie nicht gestolpert sind, dann posten sie noch heute :D |
Glufke Postings: 1056 Registriert seit 15.08.2017 |
2024-12-04 10:28:00 Uhr
Stimmt, der Opener ist grandios! Mit hauchzartem Vorsprung ist allerdings wohl "Schwanensee" mein Favorit auf dem Album. Insgesamt ein starkes Album, der Vorgänger ist aber noch ein bisschen stärker imo. |
Hierkannmanparken Postings: 2190 Registriert seit 22.10.2021 |
2024-12-04 10:24:25 Uhr
"Werde die Platte erst im Herbst hören. Die passt einfach nicht zum Frühling. Das ist Musik, die man sich anhört, bevor man im alten Bundeswehrparka, an dem noch Blut klebt, rausgeht und sich den Arsch abfriert. So schwer es auch fällt ... aber der Veröffentlichungszeitpunkt ist fatal."Genau der Gedanke kam mir auch. "Rachel & Joseph" ist noch eine sehr späte Entdeckung für die Top 10. Wahnsinn, gerade das Ende mit dem Chorgesang und dem Schlagzeug, das in feinster Charlie Hall-Manier nicht miteskaliert, sondern beim stoischen Beat mit festgezogener Hihat bleibt. Neben "Markt fressen Seele" auch ein krasser Ohrwurm! |
Hierkannmanparken Postings: 2190 Registriert seit 22.10.2021 |
2024-12-03 21:50:21 Uhr
Heute drauf gestoßen, hatte mich sofort am Haken |
LoarsWoars Postings: 21 Registriert seit 19.01.2017 |
2024-05-12 13:18:32 Uhr
Hätte nie gedacht, dass nach dem gleichnamigen Album noch etwas kommt. Belgrad war schon richtig gut. Mit Lysis machen sie da weiter und sind noch abwechslungsreicher. Gefällt mir richtig gut! |
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Referenzen
Fehlfarben; Warsaw; Grauzone; The Cure; Joy Division; Kommando Sonne-Nmilch; Motorama; Klez.E; Die Goldenen Zitronen; Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen; Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs; All Diese Gewalt; Die Nerven; Ton Steine Scherben; Talking Heads; Fugazi; The KVB; New Order; Sport; Pendikel; EA 80; Oma Hans; Trend; Karies; Drangsal; Albrecht Schrader; Ja, Panik; Von Spar; Messer; 1000 Robota; Kraftwerk; Die Selektion; David Bowie; Lou Reed; Kafkas; Herpes; Tocotronic; Slime; ...But Alive; Die Wände; Love A; Trixsi; Karies; Die Arbeit; Schubsen
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