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Mdou Moctar - Funeral for justice

Mdou Moctar- Funeral for justice

Matador / Beggars Group / Indigo
VÖ: 03.05.2024

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Vive la danse

Immer wieder ist in der jüngeren Vergangenheit vom Niedergang des Gitarrenrocks die Rede gewesen, vom Verlust seiner gesellschaftlichen Relevanz, dem bloßen Fokus auf Nabelschau und zitierte Gesten. Für einen solchen Kulturpessimismus hat Mdou Moctar, der zurzeit wahrscheinlich beste Rockgitarrist der Welt, in Niger keine Zeit, trägt jene Diagnose doch auch die Annahme vor sich her, die Deutungshoheit über laute Gitarrenmusik liege einzig im Westen. Lauscht man der schier irrwitzigen Energie und evokativen Kraft seiner Soli, kommen zwar unweigerlich kanonische Gitarrenhelden wie Jimi Hendrix und Eddie van Halen in den Sinn, das rauschhafte Feedback des ersten, das wilde Tapping des zweiten. Doch all das spielt sich eben auf der Folie des Tishoumaren ab, jener lauten Form des Tuareg-Blues, die mit Polyrhythmik und chromatischer Tonalität ihre hypnotisierende Kraft auf Hochzeiten und Volksfesten ausbreitet. Frei vom basalen Vokabular und den Stereotypen des Westens sei Moctar als Gitarrist darum, gab Metallicas Kirk Hammett kürzlich zu Protokoll. Und damit machen Moctar und seine drei Weggefährten nun endgültig ernst: Was sich im Schlüsseltrack des grandiosen Vorgängers "Afrique victime" schon zum antiimperialistischen Schlachtruf erhob, schreibt "Funeral for justice" voller Wut und politischer Klarsicht fort.

"Anführer Afrikas, warum neigt ihr euer Ohr bloß Frankreich und Amerika zu?", fragt Moctar im Opener, nachdem das mächtige Eingangsriff vom rasend hervorpreschenden Schlagzeug verschluckt wird. Moctars Finger mögen noch so flink übers Griffbrett flitzen, der Song atmet den Geist des Punk. Moctar singt weiterhin meist in Tamasheq, der englische Titel fungiert vielmehr als Gesprächsangebot und erster Zugang. Denn auch die Minderheitensprache ist längst ein Politikum, vom Aussterben bedroht durch das Französisch der Kolonialära – und genau das wird im anschließenden "Imouhar" zum Thema. In gedämpften Tönen beginnt es zunächst als Lo-Fi-Blues, der an Junior Kimbrough erinnert und vom Niger- ins Mississippi-Delta deutet. Nach eineinhalb Minuten brüllt Moctars erstes Solo aus den Boxen, den Verzerrer aufgerissen. Es klingt, als sei man urplötzlich in einen Sandsturm geraten. Das Tempo nimmt peu à peu zu, die Wucht der Band ebenfalls, dann entlädt sie sich in einem 30-sekündigen Noise-Outro. Moctar, Rhythmusgitarrist Ahmoudou Madassane, Schlagzeuger Souleymane Ibrahim sowie Bassist und Produzent Mikey Coltun – der als einziges Bandmitglied nicht aus Niger, sondern der DIY-Szene Washingtons stammt, inzwischen aber häufig in Afrika lebt – spielen, als hinge die Welt davon ab. Und da das Ende einer Sprache eben auch das Ende einer Welt bedeutet, trügt der Eindruck nicht.

In der Folge alternieren entflammte Gitarreneskapaden und kontemplative Pausen auf "Funeral for justice", die Dramaturgie gleicht einem Pfad über hügeliges Terrain. Da wären "Sousoume Tamacheq", das mit dunklen Drones und Feedback-Geheul zum wilden Ritt durch allerhand Tempi und Lautstärken begrüßt, oder der eindringliche Klagegesang von "Tchinta" – ohnehin wirkt Moctars Stimme bestimmter und präsenter als bislang, ob solo oder in den genretypischen Call-and-Response-Passagen. Im wundervollen "Takoba" haucht und flüstert er beinahe ins Mikro, während sich grazile Gitarrenfiguren umspielen und zu sanft flirrender Psychedelik verweben. Und das akustisch geprägte "Imajighen" scheint von einer untergründigen Anspannung und Unruhe gezeichnet, die ihres Ausbruchs harren.

Der folgt schließlich mit "Oh France", dem inhaltlichen Pendant zu "Afrique victime". Moctars Gitarre verliert sich im Flanger, als würde sie vom Steppenstaub verweht; nach einem kurzen Break formuliert sich die Anklage an die, nur vordergründig ehemalige, Kolonialmacht zum dringlichen Abgesang aus. Die zuletzt gravierenden politischen Umwälzungen in der Sahelzone – man denke an den Putsch in Niger – finden hier ihr musikalisches Abbild. "Funeral for justice" ist in Entstehung und Richtung ein revolutionäres Album geworden, das körperliche und mentale Bewegung verlangt. Da passt es nur, wenn "Modern slaves" zum Abschluss mit knarzender Akustikgitarre zum Gespräch ansetzt, sich dann wieder neu besinnt, bis es seinen Groove findet. Als melancholischer Chor schwebt die Band über nachdenklichen Melodien und rollenden Percussions, bis nur noch menschliche Stimmen übrigbleiben. Gäbe es eine passendere Botschaft?

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights

  • Imouhar
  • Takoba
  • Oh France
  • Modern slaves

Tracklist

  1. Funeral for justice
  2. Imouhar
  3. Takoba
  4. Sousoume Tamacheq
  5. Imajighen
  6. Tchinta
  7. Djallo #1
  8. Oh France
  9. Modern slaves

Gesamtspielzeit: 39:05 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Deaf

Postings: 3206

Registriert seit 14.06.2013

2024-05-18 18:10:55 Uhr
Habe es noch nicht vollständig gehört, aber wird gewohnt stark sein. Möchte dazu noch Etran De L'Aïr empfehlen, ebenfalls aus dem Niger, die ich gestern live gesehen habe und bei den Referenzen leider fehlen.

Hierkannmanparken

Postings: 2133

Registriert seit 22.10.2021

2024-05-13 14:38:14 Uhr
Die einzige Musik, bei der ich auf nem Konzert mitklatschen würde. Aber nur triolisch!

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 28539

Registriert seit 08.01.2012

2024-05-05 21:18:28 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

Meinungen?

Deaf

Postings: 3206

Registriert seit 14.06.2013

2024-03-05 18:14:58 Uhr
Album kommt übrigens am 03.05.2024.

Tracklist:
1. Funeral for Justice
2. Imouhar
3. Takoba
4. Sousoume Tamacheq
5. Imajighen
6. Tchinta
7. Djallo #1
8. Oh France
9. Modern Slaves

Deaf

Postings: 3206

Registriert seit 14.06.2013

2024-03-05 10:44:05 Uhr
Ja, toller Song und live waren die auch klasse.
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