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The Lemon Twigs - A dream is all we know

The Lemon Twigs- A dream is all we know

Captured Tracks / Cargo
VÖ: 03.05.2024

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Aus der Zeit gefallen

Mersey Beach nennen die Brüder Michael und Brian D'Addario den Schauplatz ihrer Songs. Wer nun mit dem Finger auf der Landkarte sucht, wird kaum fündig werden: Vielmehr stiftet Mersey Beach die fiktiven Koordinaten für die Musik des Duos, den imaginären Raum zwischen knackigem Garage-Pop aus Liverpool und sonnendurchfluteten Harmonien von der kalifornischen Küste. Der geographischen Fantasie folgt die Zeitreise, die beiden zentralen Elemente werden zusätzlich in ihrer Ursprungsform aus den Sechziger- und Siebzigerjahren konserviert. Heraus kommen eine detailverliebte, unironische Reverenz an Träume von einst und ein Songwriting, das seine Qualitäten bei den ganz Großen abgeschaut und virtuos zu reproduzieren gelernt hat. "A dream is all we know" lautet nun auch der clevere Titel des fünften Albums, mit dem The Lemon Twigs auf den hochgelobten Durchbruch im vergangenen Jahr reagieren. "Everything harmony" – noch stärker genährt von Retro-Power-Pop à la Big Star – trieb eine wesentliche Frage an die D'Addarios in den Vordergrund: Wann überschreitet eine derart in der Vergangenheit verwurzelte Ästhetik die Grenze des Eskapismus? "A dream is all we know" lässt sich darum also durchaus programmatisch als Abkehr von Realität und Gegenwart zugunsten einer völligen Traumwelt verstehen – jetzt erst recht! Doch so einfach bleibt es eben auch nicht.

Ihren Vorbildern gemäß funktionieren The Lemon Twigs am besten als Singles-Band, davon zeugt auch die Tatsache, dass bereits ein Drittel des Albums vorab ausgekoppelt wurde. Allen voran der Opener "My golden years", eine umwerfende Melange aus allem, was die Band beherrscht. Die flirrenden Jangle-Gitarren, die leichtfüßige Komplexität der Songstruktur werden garniert mit ätherischen Beach-Boys-Harmonien, bis alles der Euphorie entgegentreibt. Michael packt dem Wohlklang zum Trotz nach rund zwei Minuten ein paar kratzige Phrasierungen aus – man denke an McCartney auf "Oh darling" – die sich zum Abschluss in einem engelsgleichen Brian-Wilson-Falsett entladen. Die Einzelteile mögen bekannte Assoziationen wecken, auf diese Weise zusammengesetzt, lassen sie einen fröhlich staunend zurück. "They don't know how to fall into place" bremst die Energie etwas, lädt mit seinem im Cembalo-Modus tänzelnden Keyboard zu beschwingter Reflektion ein. Die Band hüpft munter von Akkord zu Akkord, einmal mehr ergibt sich eine paradoxe Sogwirkung daraus, dass ihre überbordenden Songs trügerisch simpel verpackt sind. Thematisch bricht sich jenes Unbehagen Bahn, das dem gesamten Album leitmotivisch dient: "Every day is like a memory / Of someone I knew a thousand years ago / I've never heard or seen." Der Dialog mit Brian Wilsons ikonischem Klagelied "I just wasn't made for these times" ist angestoßen, weitet sich sogleich zur Sinnkrise aus: "She was a girl who painted pictures of / Objects of no particular relevance." Dezent streut die Leadgitarre ein paar Dissonanzen ein, die sogleich in der allgemeinen Harmonie aufgehoben werden.

Der Quasi-Titeltrack "A dream is all I know" tarnt sich im ersten Moment als zuckersüßer Pop, gebettet auf weihnachtliche Keyboards und sanft-psychedelische Harrison-Licks aus der "Revolver"-Ära, doch auch hier läuft der Text seiner wohligen Heimat davon: "And in the evening, when you give up / And you pour a glass of wine / The answer was near / You hold your hand out and watch it disappear." Und noch grundsätzlicher: "There's nothing really mine, just borrowed time." Bei aller klanglichen Konsistenz entsteht eine Art Schleudertrauma, wenn direkt im Anschluss die grell-fröhlichen "Na na na"s von "Sweet vibrations" reingrätschen und sogar dessen Titel derart epigonal daherkommt, dass es fast parodistisch wirkt. Vielleicht verhält es sich so: Wer 2024 derart gekonnt vergangene Stile emuliert, muss aus der Zeit gefallen sein – mit allem, was das sonst noch impliziert.

Und der stilistischen Bandbreite sind weniger Grenzen gesetzt denn je: "In the eyes of the girl" (übrigens von Sean Lennon koproduziert, nach dessen Vater "Church bells" auf fast unheimliche Art klingt) entrückt sich zu schunkelndem Sepiaklavier im Walzertakt; "How can I love her more" liefert Motown-Bläser und eine einprägsame Hook; "Peppermint roses" torkelt durch Zirkusorgeln und Fuzz-Gitarren; "You and I are not wise" basiert zunächst auf der gleichen Akkordfolge wie der Teenage-Fanclub-Klassiker "Alcoholiday", die dann von Country-Inflektionen verziert wird. Die samtenen Jazz-Harmonien und Bossa-Nova-Rhythmen von "Ember days" erzeugen zwischen Nylongitarre und Kontrabass ihre eigene Psychedelik, deuten dabei ähnlich wie das niedergeschlagene "I shoud've known from the start" eine neue Richtung in gedämpfteren Tönen an. Denn auch wenn sich der Closer "Rock on (Over and over)" mit trotzigem Glam-Rock in bester T.-Rex-Manier verabschiedet, wird man den Eindruck einer sich ausbreitenden Melancholie nicht los. The Lemon Twigs – weder Hippies, noch Surfer oder Hafenarbeiter – träumen den Traum eines anderen, in gestochenen Farben, mit stellenweise brillanter Palette. Frei nach Rio Reiser: Der Traum ist aus, doch ist er alles, was sie kennen.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights

  • My golden years
  • They don't know how to fall into place
  • Peppermint roses
  • I should've known right from the start

Tracklist

  1. My golden years
  2. They don't know how to fall in place
  3. Church bells
  4. A dream is all I know
  5. Sweet vibration
  6. In the eyes of the girl
  7. If you and I are not wise
  8. How can I love her more
  9. Ember days
  10. Peppermint roses
  11. I should've known right from the start
  12. Rock on (Over and over)

Gesamtspielzeit: 34:16 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Mr Oh so

Postings: 3252

Registriert seit 13.06.2013

2024-09-22 17:23:27 Uhr
soniclife

Ich rege mich regelmäßig über die mitunter absurd überzogenen Vinyl-Preise auf. Daher hier mal ein positives Gegenbeispiel, dass es durchaus anders geht. Die Platte kostet auf der Band-Website 24 Euro plus 4,80 Euro Porto (aus England!).

Dafür bekommt man das Album in Candyfloss-Pink im bedruckten Innersleeve, eine Bonus-Flexi, ein handsigniertes Foto, Poster und Aufkleber:

https://ibb.co/rm2fRmM


Klasse. So muss es sein.

Aber kamen da aus England nicht noch Zoll und Handling-Gebühren hinzu?

AliBlaBla

Postings: 7434

Registriert seit 28.06.2020

2024-09-22 17:08:44 Uhr
Ah, Merci

edegeiler

Postings: 3105

Registriert seit 02.04.2014

2024-09-22 17:01:43 Uhr
In Köln, schau in den Konzerte Thread :)

AliBlaBla

Postings: 7434

Registriert seit 28.06.2020

2024-09-22 16:50:18 Uhr
@edegeiler
Natürlich super Album; gestern in Hamburg (Reeperbahnfestival), oder wo?

Wie lange haben sie denn so gespielt?

edegeiler

Postings: 3105

Registriert seit 02.04.2014

2024-09-22 10:14:45 Uhr
Nach dem tollen Konzert gestern: Auch das hier ist super. Wat ne Band, ey.
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