Hannes Wittmer - Sag es allen Leuten

Mairisch
VÖ: 01.03.2024
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Der Beschissenheit zum Trotz
Die Existenz dieses Albums grenzt an ein Wunder. Etwas mehr als fünf Jahre nach dem grandiosen "Das große Spektakel", das allen Geschäftsprinzipien des Musikbusiness beherzt adieu sagte und kostenlos verfügbar war, legt Hannes Wittmer den Nachfolger vor. Bis "Sag es allen Leuten" allerdings erscheinen konnte, erlebte Wittmer, vormals als Spaceman Spiff unterwegs, deutlich mehr persönliche Tiefen als Höhen. Depressionen hielten ihn nach eigenem Bekunden fest im Griff und wurden so bestimmend, dass ihm die Idee eines neuen Longplayers und die Rückkehr auf die Bühne zwischenzeitlich als reine Utopie vorkamen. Schließlich wurde eine kleine Nachfrage zu etwas ganz Großem: Der Mairisch Verlag klopfte an und bat Wittmer, als Protagonist des Firmenjubiläums zu fungieren. Die 100. Veröffentlichung des Verlags stand an. Der Musiker sagte zu. Ein großes Glück, wie sich jetzt mit Blick auf die zehn Songs herausstellt.
Als Album war das alles ursprünglich gar nicht konzipiert, so viel sei noch rasch vorausgeschickt, bevor wir uns dem Ganzen zuwenden. Die ersten vier Stücke beispielsweise sind Teil der EP "Das Ende der Geschichte". Nun werden sie zum Gegenteil, zum Auftakt einer ganz neuen Geschichte. "Nachruf" heißt der erste Titel, der textlich die Richtung vorgibt: "Jedes Lied eine Sehnsucht / Nach Kontrolle und Halt / Außen groß und beliebig / Innen müde und alt." Es braucht nur ganz wenige Töne, ganz wenige Zeilen, und man ist mittendrin in diesem besonderen Universum von Hannes Wittmer. In dem er einem unglaublich nahe rückt mit seiner wunderbar reduzierten Instrumentierung und seiner niemals aufdringlichen, stets pointiert zum Ausdruck gebrachten Textkunst. "Ich Du er sie ich" folgt gleich als nächster Geniestreich, lyrisch verrätselt ruft er uns zu: "Die Stadt ein Theater / Leicht ist es nie / Weil jeder von uns allen eine Rolle spielt / Und jede von uns allen führt Regie."
In "Die Beschissenheit der Welt" bearbeitet Wittmer seine Gitarre, jedes Zupfen wird greifbar, und über allem schwebt die schmerzhafte Erkenntnis: "Dann und wann kriegt sie mich wieder / Auch wenn es mir nicht gefällt / Manchmal ringt sie mich nieder / Die Beschissenheit der Welt." Er berührt, begeistert und bereichert mit seiner unaufdringlichen Art. Den Abschluss der ersten Hälfte bildet ein Cover, auch das ursprünglich nicht fürs Albumformat gedacht. Wittmer trägt Marcus Wiebuschs Stück "Was hätten wir denn tun sollen" vor, nein: Er verleiht ihm seine ureigene Aura. Der Song, der einzige auf "Sag es allen Leuten", der nicht aus eigener Feder stammt, reiht sich nahtlos ein in den Liederstrom. Apropos Wiebusch: Den Vergleich mit anderen muss Wittmer natürlich nicht scheuen, längst ist er in einem Atemzug mit Wolfgang Müller, Gisbert zu Knyphausen und Niels Frevert zu nennen.
Die zweite Hälfte startet mit einem Perspektivwechsel, aus der Binnen- wird eine Außenschau: "Und versuche meine Zweifel an der Menschheit / Mit dem Glauben an die Menschen zu vereinen." Der musikalische Takt bleibt hier ein eher ruhiger, in "Die letzte Eule in Athen" allerdings schlägt Hannes Wittmer auch mal ein höheres Tempo an. Kontrastpunkt ist "Vom aufrechten Gang", das wieder merklich reduzierter und noch einmal intimer daherkommt. Ein Song, der spontan auf einem Parkplatz eingespielt wurde, während der Regen aufs Dach prasselte. Noch so ein Beispiel für unverhofft ins Leben drängende Stücke ist "Ein Geräusch", das Wittmer in gerade einmal 20 Minuten schrieb und in der mentalen Pandemiedüsternis vertonte. In "Grande randonnée" bricht es kurzzeitig nahezu aus ihm heraus, ein beschwingt-heiterer Moment, in dem es heißt: "Es ist so schön, dass Du da bist / Alles weitere regelt der Verfall / Manchmal juckt es mich gar nicht / An anderen Tagen juckt's mich überall." Das große Finale dieses erneuten Spektakels bringt dann noch einmal alles zusammen: "In Ordnung" bietet Zweifel, Hoffnung, Angst. Mit großer Klasse führt Hannes Wittmer ein Album zum stimmigen Abschluss. Eines, dessen Existenz an ein Wunder grenzt und selbst ein kleines ist.
Highlights
- Nachruf
- Ich Du er sie ich
- Grande randonnée
Tracklist
- Nachruf
- Ich Du er sie ich
- Die letzte Eule in Athen
- Die Beschissenheit der Welt
- Was hätten wir denn tun sollen
- Ausblick
- Vom aufrechten Gang
- Grande randonnée
- Ein Geräusch
- In Ordnung
Gesamtspielzeit: 36:36 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Obrac Postings: 2625 Registriert seit 13.06.2013 |
2024-03-14 12:32:43 Uhr
Vor allem die letzten beiden Stücke sind toll. |
Grizzly Adams Postings: 5884 Registriert seit 22.08.2019 |
2024-03-06 17:43:13 Uhr
Fällt mir leicht, das Album zu mögen. Wird sehr wahrscheinlich ein ständiger Begleiter über das Jahr. Ein Songwriter, der mit wenig Instrumentierung und Produktion so viel zu sagen hat. Nachdenkliches, Anklagendes und Hoffnungsfrohes. Ohne allzu große Schnörkel in unserer schnörkel- und doppeldeutigen Sprache. Schön, dass du da bist Hannes! 8/10 aus dem Stegreif. Tendenz nach oben. |
Vivat Virtute Postings: 190 Registriert seit 05.11.2023 |
2024-03-05 23:36:49 Uhr
Da milbonas Blödsinn keine Antwort verdient, direkt zum Thema:Ich tu mich noch ein Bisschen schwer mit dem Album. Viele Songs gefallen mir eigentlich, aber der letzte Funke mag noch nicht so richtig überspringen. Liegt vielleicht am etwas "reduzierten" Klangbild, keine Ahnung. Die "Türöffner" der Spaceman Spiff Alben (sowas wie "Vorwärts ist keine Richtung" usw.) fehlen mir einfach noch ein Stück weit. Mal sehen. |
milbona Postings: 32 Registriert seit 16.02.2024 |
2024-03-05 23:14:53 Uhr
Ach wie furchtbar. Ein Reinhard May für Arme bedankt sich bei der redaktion für die wohlwollende Kritik. Wie kann man jetzt noch unvoreingenommen ein Album dieses Künstlers besprechen. Wird hier überhaupt unvoreingenommen besprochen? Die Kritik fürs nächste Witt Album liegt doch schon in der Schublade ^^ |
Sick Postings: 315 Registriert seit 14.06.2013 |
2024-03-03 01:00:48 Uhr
Nicht der beste deutsche Songwriter (R.I.P. Nils Koppruch), aber einer von den Besten. Danke dafür... |
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Referenzen
Spaceman Spiff; ClickClickDecker; Moritz Krämer; Gisbert zu Knyphausen; Nils Koppruch; Kid Kopphausen; Fink; Niels Frevert; Nationalgalerie; Wolfgang Müller; Patrick Richardt; Gloria; Die Höchste Eisenbahn; Herrenmagazin; Kettcar; Thees Uhlmann; Tomte; Marcus Wiebusch; Olli Schulz; Funny Van Dannen; Bernd Begemann; PeterLicht; Tom Liwa; Tilman Rossmy; Jan Plewka; Jan Böttcher; Torben Möller-Meissner; Der Dünne Mann; Rio Reiser; Reinhard Mey; Hannes Wader; Der Junge Mit Der Gitarre; Pohlmann; Felix Meyer; Jona Steinbach; Bosse; Johannes Oerding; Tim Bendzko; Enno Bunger; Maxim; Philipp Poisel; Max Prosa; Clueso
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