Hotline TNT - Cartwheel

Third Man / Membran
VÖ: 03.11.2023
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Kurze Lunte
Würde man es nicht besser wissen, könnte man Will Anderson unterstellen, er würde seine Musik nach den neuesten TikTok-Trends modellieren. Seine – zumindest auf Platte – Ein-Mann-Band Hotline TNT berauscht sich am Shoegaze-Revival, dreht jeden Lautstärkeregler automatisch auf Anschlag und passt sich auch in ihren Songlängen medial gesetzten Aufmerksamkeitsstandards an. Doch Anderson hat bereits Verzerrungen aus Effektpedalen gepresst, als auf Facebook noch mehr 15- als 50-Jährige unterwegs waren, und die Kompaktheit trägt auch ein thematisches Fundament: Von romantischer Enttäuschung zu singen ist schließlich gesünder, wenn man schnell auf den Punkt kommt und nicht ewig im Herzmatsch herumrührt. Wer jahrelang die Luft von Minneapolis einatmete, hat vielleicht auch automatisch mehr Bob Mould und The Replacements im Blut als Slowdive. Hotline TNTs zweites Album "Cartwheel" ist in erster Linie eine Hookschleuder, deren Feedback-beladener Power-Pop für ätherische Shoegaze-Assoziationen nicht viel übrig hat.
Ironischerweise ist der längste und flächigste Song dennoch einer der besten. Der Opener "Protocol" schichtet Akustikakkorde und Störgeräusche zusammen, ehe die Gitarren alle Zwischenräume fluten und dabei einen guten Schwall Selbstgeißelung mitbringen: "After the fall / I pretend it's all / My fault." Die Essenz der Platte pointiert eher das Gute-Laune-Dynamit von "I thought you'd change". Die aus zwei Perspektiven erzählte Geschichte verdient sicherlich Beachtung, wären da nicht die jedes Spotlight auf sich ziehenden Riffs straight outta Neunziger-Alternative-Radio. "BMX" formt aus der gleichen Ästhetik einen sogar noch größeren Hit und wird auch textlich nostalgisch: "Crossed off all your thoughts on distortion / Play your old songs." Die Sentimentalität, die gerade Andersons Vocals ausstrahlen, nimmt er an anderen Stellen jedoch gerne aufs Korn. "There's a lot in this song / That's not in my diary", versichert etwa das besonders druckvolle "History Channel".
Es ist genau diese Wucht, die Hotline TNT auszeichnet und die nach Gleichförmigkeit schreienden Unkenrufen gleich den Mund zuhält. Mit dem erdrutschartig getrommelten Break von "Beauty filter" könnte man wahrscheinlich mittelgroße Fußballstadien einreißen, ehe die verkappten Hardcore-Riffs von "Son in law" dessen Erinnerungen eine giftige Schlagseite verpassen: "Have fun on your parents' money / Run up that bill / Back when you thought I was funny / We'd split up the pill." Was nicht heißt, dass Anderson seine Formel überhaupt nicht variiert. Trotz erneuten Knallerzündungen im Refrain schwelgt "I know you" mehr in liebevollen Gedanken an früher, als diese in die Gegenwart krachen zu lassen. Im Kontrast dazu zieht "Spot me 100" das Tempo an, indem es ansatzlos einen Drum'n'Bass-Beat aus den Saiten spuckt. Doch wieder TikTok?
Dem hyperaktiven "Out of town" ließe sich die gleiche Frage stellen, wenn es die Atomstruktur seiner Gitarren solange entstellt, bis sie sich in elektromagnetisches Rauschen verwandeln. Es ist nicht das einzige Mal, dass "Cartwheel" so klingt, als hätten Hotline TNT ein Dutzend Jangle-Pop-Perlen durch den Teilchenbeschleuniger gejagt – wobei Anderson im melodisch glitzernden Schlussstück "Stump" beweist, dass er es auch ganz kristallklar kann. Um aus dem Wust vieler sehr guter Releases im weit gefächerten Shoegaze-Kosmos mit letzter Konsequenz herauszuragen, erlaubt sich das Album ein paar Schludrigkeiten zu viel: Warum es bei nur gut 30 Minuten Spielzeit noch ein nichtssagendes Interlude wie "That was my life" braucht, weiß höchstens Anderson selbst. Doch wer sich mit ein paar Starkstrom-Endorphinschüben die Seele ausspülen lassen will, findet wenig bessere Anlaufstellen. "Just stay with me or leave", heißt es zwischen den Verstärkerlüftungen von "Maxine". Wir bleiben gerne.
Highlights
- Protocol
- Beauty filter
- History Channel
- BMX
Tracklist
- Protocol
- I thought you'd change
- Beauty filter
- History Channel
- I know you
- Son in law
- Out of town
- Maxine
- That was my life
- Spot me 100
- BMX
- Stump
Gesamtspielzeit: 33:06 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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saihttam Postings: 2582 Registriert seit 15.06.2013 |
2024-02-09 11:41:44 Uhr
Alles klar! Vielen Dank für die Rückmeldung! Hoffentlich lockt die Rezension so noch ein paar begeisterte Hörer*innen an. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27971 Registriert seit 08.01.2012 |
2024-02-08 19:02:46 Uhr
Das ist etwas skurril gelaufen. Als Perle war sie im Gespräch, hat es aber nicht reingeschafft. Durch einen Fehler meinerseits kam sie mit VÖ Januar 2024 in die Liste. Den wir zum Anlass nehmen wollten, sie noch regulär zu machen. Dann fiel auf, dass es sich da um einen Fehler handelte. Und wir haben uns dann entschlossen: Egal, machen wir einfach dennoch.Auch wenn reguläre Rezensionen drei Monate nach VÖ eine ziemliche Ausnahme sind. |
saihttam Postings: 2582 Registriert seit 15.06.2013 |
2024-02-08 01:38:59 Uhr
Wie kommt es, dass dieses Album jetzt noch rezensiert wird? Ich hatte es ja sogar schon als Vergessene Perle 2023 vorgeschlagen, und da war es nicht dabei. Aber freut mich auf jeden Fall. 7/10 passt meines Erachtens ganz gut. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27971 Registriert seit 08.01.2012 |
2024-02-07 21:18:15 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Sugar; Hüsker Dü; Bob Mould; Dinosaur Jr.; My Bloody Valentine; Swervedriver; Teenage Fanclub; The Replacements; Pixies; Drop Nineteens; Alvvays; Cloud Nothings; Wavves; DIIV; Spirit Of The Beehive; Yuck; Teenage Wrist; Chastity; LVL Up; They Are Gutting A Body Of Water; Lilys; Slow Pulp; Feeble Little Horse; Cymbals Eat Guitars; Nothing; Chapterhouse; Slowdive; Blonde Redhead; Matthew Sweet; Gin Blossoms; The Smithereens; Big Star; R.E.M.; The Raspberries; Yeule
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- Hotline TNT - Cartwheel (4 Beiträge / Letzter am 09.02.2024 - 11:41 Uhr)