Karl Bartos - The cabinet of Dr. Caligari

Bureau B / Indigo
VÖ: 09.02.2024
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10

Kopfkino
Für die meisten Filmfreunde und Filmforscher ist es schon lange ein unumstößlicher Fakt: Ohne die Arbeit der großen Stummfilmstudios im Deutschland der Weimarer Republik hätte die Filmgeschichte einen komplett anderen Verlauf genommen. Das Nazi-Regime, aber auch der unaufhaltsame Vormarsch des Tonfilms fegten diese goldene Ära des Films letztlich hinweg, doch was bleibt, sind Klassiker wie "Metropolis" oder "Nosferatu", Filme, die heute, fast 100 Jahre später, als Kulturschätze der Menschheit gelten. Einer dieser legendären Filme ist "Das Kabinett des Dr. Caligari", 1920 uraufgeführt und so etwas wie der erste Psychothriller der Filmgeschichte, unfassbarerweise später von den Nazis als "entartet" verfemt. Dennoch blieben die Negative im Unterschied zu "Metropolis" trotz Verfolgung und Kriegswirren erhalten, lediglich der erste Akt musste aus diversen Verleihkopien restauriert werden, sodass 2014 die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung eine prachtvolle Version in 4k-Qualität veröffentlichten konnte.
Einzig die musikalische Untermalung ist – vermutlich unwiederbringlich – verschollen, bekannt ist lediglich, dass die Musik zur Uraufführung 1920 von Guiseppe Becce stammt, einem der wohl einflussreichsten Filmmusik-Komponisten jener Epoche. Nun gab es in der Vergangenheit diverse sehr respektable Versuche, die Stimmungen, die expressionistischen Bilder und die Faszination dieses Films angemessen zu vertonen, besonders erwähnenswert die Interpretation von John Zorn anlässlich der Uraufführung der restaurierten Filmfassung am 9. Februar 2014. Auf den Tag genau zehn Jahre später nun erscheint eine neue Fassung – komponiert und arrangiert von Karl Bartos, natürlich bekannt für sein Schaffen mit Kraftwerk, der sich nach eigener Aussage schon seit 2005 intensiv mit dem Film und seinen verschachtelten Erzähl-Ebenen beschäftigt.
Im Grunde genommen ging Bartos also mit einem leeren Blatt Papier und ein paar Ideen ans Werk, außerdem mit der Frage im Hinterkopf: "Was hätte ich an Becces Stelle getan?". Damit ist schon einmal klar, dass "The cabinet of Dr. Caligari" eben keinen überdrehten Pop-Score bekommt, wie es "Metropolis" 1984 durch Giorgio Moroder widerfahren war. Bartos nähert sich zunächst den Hauptfiguren und Orten des Films, verfasst individuelle Motive, die den Wiedererkennungswert auch ohne die Bilder erhöhen. So erhält der zwielichtige und manipulative Dr. Caligari ein vordergründig eingängiges, fast tanzbares Thema, während die typische Kirmesmusik des Volksfests im fiktiven Ort Holstenwall durch dissonante Einsprengsel zerrissen wird und damit das nahende Unheil vorwegnimmt. Je weiter sich jedoch die Handlung voranarbeitet, bis tief hinein in die Irrenanstalt, in der Caligari nicht etwa wie vermutet Patient, sondern Direktor ist, desto düsterer wird der Score und entfaltet dabei eine unglaubliche Sogwirkung. Eine bizarre Faszination, die man vielleicht mit der Vorstellung vergleichen kann, als wäre "Shutter Island" nicht von Martin Scorsese, sondern von David Lynch verfilmt worden, der sich zudem verdammt mieses Zeug eingeworfen haben muss.
Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen einzelnen Tracks, lassen im Grunde genommen keine Trennung zu, und vollenden sich letztlich zu einer meisterhaften Untermalung. Natürlich funktioniert der Soundtrack nicht ohne den Film, natürlich können keine einzelnen Passagen oder womöglich Songs herausgehoben werden. Doch Bartos adaptiert die verwinkelte Geschichte, die selbst nach heutigen Maßstäben immer noch aufsehenerregend ist, mit großer Ehrfurcht vor dem Gesamtwerk, lässt aber immer wieder durch äußerst dezente Rhythmik seine eigene persönliche Note hervorscheinen. Ganz klar, "The cabinet of Dr. Caligari" entzieht sich jeglicher Hörgewohnheit. Doch genau das macht der Film selbst seit mehr als 120 Jahren. Ob Bartos' Soundtrack jemals ähnlich legendär werden wird, darf gerne bezweifelt werden. Für den Moment jedoch hat der Mann, der einst als "der zweite von links" für den Herzschlag der Mensch-Maschine aus Düsseldorf zuständig war, ein Werk geschaffen, dass einem der größten Meisterwerke der Filmgeschichte tatsächlich zur Ehre gereicht.
Highlights
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Tracklist
- CD 1
- Prologue
- Scary memories
- Atonal floating
- Full of life
- In the townhall
- At the funfair
- A mysterious crime
- At the funfair 2
- The cabinet of Dr. Caligari
- Jane's theme
- March grotesque 2
- Jane's theme 2
- Shadows
- Tragic message
- Suspicion
- Tragic message 2
- The plan
- A dark figure
- Caligari's theme
- Arrest of the suspect
- Caligari's theme 2
- CD 2
- Worried Jane
- Interrogation
- Jane's fear
- Francis's observation
- Cesare's attack and escape
- Safe and sound
- Francis at a loss
- Caligari's deception
- Lunatic asylum
- In search of the truth
- Out in the field
- The director rants and rages
- Scary memories 2
- Who's mad here?
- Francis rants and rages
- Epilogue
Gesamtspielzeit: 77:08 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Kojiro Postings: 4261 Registriert seit 26.12.2018 |
2024-02-16 16:25:42 Uhr
Habe heute die Vinyl-Box bekommen. Schickes und v.a. erschwingliches Set. |
Kojiro Postings: 4261 Registriert seit 26.12.2018 |
2024-02-08 07:34:10 Uhr
Schönes Review. Bin sehr auf die Aufführung gen Ende des Jahres in München gespannt, zu der Bartos ebenfalls anwesend sein wird. |
Hier stand Ihre Werbung Postings: 2174 Registriert seit 25.09.2014 |
2024-02-08 00:45:24 Uhr
Der Film macht das aber erst seit 100 und nicht seit 120 Jahren oder ist hier die Gesamtheit des Films als Medium gemeint? |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28244 Registriert seit 08.01.2012 |
2024-02-07 21:17:10 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Danny Elfman; Angelo Badalamenti; Giorgio Moroder; Kraftwerk; Elektric Music; Yamo; Art Of Noise; Telex; T-World; Underworld; Komputer; Appliance; Client; Ladytron; Areu Areu; Camouflage; Melotron; And One; Welle:Erdball; Depeche Mode; Electronic; New Order; The Human League; Orchestral Manœuvres In The Dark; Soft Cell; Tarwater; To Rococo Rot; Kreidler; Mouse On Mars; Jeans Team; Mediengruppe Telekommander; Patenbrigade: Wolff; Tonetraeger; Faithless; The Chemical Brothers; Daft Punk; Zero 7; Air; Röyksopp; Tosca; Faultline; Archive; Trans Am; Brian Eno; Tangerine Dream; Jean Michel Jarre; Pink Floyd
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