The Smile - Wall of eyes

XL / Beggars / Indigo
VÖ: 26.01.2024
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

How am I dreaming?
Aus einer hässlischen Sache etwas Schönes zu formen, ist schwierig. An Hässlichkeiten mangelt es derzeit ja ohnehin nicht, seien es globale Krisen, Kriege und Armut oder persönliche Tragödien wie Verluste, Depressionen und andere Krankheiten. Für Thom Yorke ist Hässlichkeit eine Blechkarosserie auf vier Rädern, seit er 1987 einen Autounfall überlebte. Bereits auf der ersten Radiohead-EP Anfang 1992 befand sich der Song "Stupid car" – "I can't change gear / I cannot see the road", murmelte Yorke schon damals. Verstreut über die kommenden Jahre: "Killer cars", "Airbag", "Packt like sardines in a crushd tin box", das Video zu "Karma police". Doch nun, Jahrzehnte später, hat Yorke zusammen mit Jonny Greenwood und Tom Skinner als The Smile ein weiteres Mal die Lupe auf sein Trauma gehalten. "Bending hectic" beginnt sogar mit der Zeile "I'm changing down the gears", fast wie ein Spiegel der über 30 Jahre zurückliegenden Lyrics. Dazu eine traumhafte Soundkulisse aus Streichern und Gitarren. Die einen tödlichen Autounfall in den italienischen Alpen beschreibt.
Die gelöste, mit Vorahnung schwangere Stimmung der ersten sechs Minuten des Songs kulminiert in der Gänsehaut zu diesen Zeilen: "The ground is coming for me now / We've gone over the edge / If you've got something to say / Say it now." "I'm letting go of the wheel", ist das letzte, was Yorke noch verlauten lässt, bevor die Instrumente in eine kreischende Dissonanz verfallen, je näher der Wagen dem Grund kommt. Eine unerwartete Wand aus wuchtigem Rock vertont den Aufschlag und bringt neben dem musikalischen auch den erzählerischen Plottwist: "Despite these slings / Despite these arrows / I'll force myself to turn." Alles nur im Kopf abgespielt, die bittere, lärmende Realität hat ihn zurück. Wer so ein Meisterstück als frühen Vorboten für ein Album ins Rennen schickt, hat wohl einige Asse im Ärmel. Dabei ist "Bending hectic" der klare Fixstern kurz vorm Ende des zweiten The-Smile-Albums "Wall of eyes". Auf ihn laufen alle Fäden zu, er ist die eindeutige Klimax. Und doch hält die Platte noch viel, viel mehr bereit.
Im Vergleich ist "A light for attracting attention" die zugänglichere und hittauglichere Platte gewesen, auf der sich das mehr oder weniger neu gefundene Trio erst einmal ausgetobt hatte. War damals noch der bewährte Nigel Godrich als Produzent von der Partie, sitzt diesmal Sam Petts-Davies im Sessel, mit dem Yorke schon für "Suspiria" zusammengearbeitet hatte. "Wall of eyes" ist deutlich entspannter im Tempo, einen straighten Rocksong gibt es hier ebenso wenig wie kurze Spielzeiten. Die Stücke recken und strecken sich, auch wenn sie sich nie wie Jams anfühlen, weil diese omnipräsente Gewissheit da ist, dass jedes Teil genau am vorgesehenen Platz sitzt. Der Titeltrack entführt in die Scheinwelt dieser acht Songs mit leicht psychotisch angeschrägten Streichern und einer immer wieder durchdringenen harmonischen Schieflage. "Is that still you?" Unverkennbar, trotzdem. Wo Yorke und Greenwood draufstehen, sind sie auch drin.
Allerlei Merkwürdigkeiten verstecken sich in diesem klanggewordenen Traum aus Songs, die ihre Hand nur zögerlich reichen. "Read the room" fährt zwar eine motzige Gitarre auf, aber nimmt statt der Abfahrt in Richtung Ausraster eine viel spannendere Entwicklung, an deren Ende ein repetitiver Groove steht, der an späte Talk Talk erinnert. "Such delights wait under your pillows", säuselt Yorke im Anschluss, während "Under our pillows" sich sein eigenes Labyrinth zusammenspinnt, in dessen Mitte ein sphärisches Outro steht – eine Art Pfeiler im Zentrum des Albums. "Teleharmonic" lässt sich lieber von Schwärmen aus Effekten im Refrain tragen. "Where are you taking me?" Dabei ist längst der Weg das Ziel. "Wall of eyes" erschafft eine Welt, in der einzelne Stücke wenig zählen. Der "Pyramid song"-meets-Seventies-Klavierpop in "Friend of a friend" oder die faszinierend stotternde Gitarre von "I quit" wären trotzdem natürlich auch für sich genommen schon groß.
Doch gerade in ihrer Funktion als Wegbereiter für den finalen Akt blühen sie noch mehr auf. "This is the end of a trail", singt Yorke, dabei scheinen auf "Wall of eyes" alle Wege offen. Ein Stück wie das beschriebene "Bending hectic" in seinem Scope, mit diesem Aufbau und dieser emotional wachrüttelnden Kraft gab es so noch nicht von The Smile, nicht mal von Radiohead. Und auch "You know me!", eine Art Wiegenlied, um die Gemüter zu beruhigen, erinnert zwar in seiner Funktion an frühere Closer wie "Videotape" oder "Motion picture soundtrack", hat aber musikalisch kaum Vorfahren im Œuvre. Klavier und diverse Geräusche paaren sich und fließen mit Yorkes hellen Vocals in einen Streicherhimmel hinein. Alles ist schön und nichts ist hässlich. Schon gar nicht, wenn "Wall of eyes" beweist, wie gut diese künstliche Verjüngung als neue Band The Smile auch mit dem zweiten Album funktioniert. Das nicht daran denkt, alte Routinen zu wiederholen, sondern unbändigen Entdeckungsdrang an den Tag legt – in den grenzenlosen Weiten des eigenen Traums.
Highlights
- Wall of eyes
- Read the room
- Bending hectic
Tracklist
- Wall of eyes
- Teleharmonic
- Read the room
- Under our pillows
- Friend of a friend
- I quit
- Bending hectic
- You know me!
Gesamtspielzeit: 45:21 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
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Kai User und News-Scout Postings: 3069 Registriert seit 25.02.2014 |
2024-12-26 11:36:12 Uhr
Bei mir leider das komplette Gegenteil.Vor allem In Rainbows und Kid A überstrahlen für mich sämtlichen The Smile Output. Dabei würde ich die tatsächlich echt gern richtig richtig gut finden. Aber irgendwie klappts nicht. |
Gomes21 Postings: 5328 Registriert seit 20.06.2013 |
2024-12-26 09:51:39 Uhr
Mir liegen die drei Smile ALben auch mehr am Herzen als aller Radiohead Output exclusive A Moon Shaped Pool. Ich finde auf fast allen Radiohead Alben fantastische Songs, aber erst The Smile hat mich so richtig abgeholt. |
AliBlaBla Postings: 7434 Registriert seit 28.06.2020 |
2024-12-25 18:47:19 Uhr
Ach ich würde soweit gehen, das mir die drei (inzwischen, unvorstellbare drei!) Alben THE SMILE besser gefallen als der RADIOHEAD Durchschnitt! Was aber nicht wundert, glaubt man an den -------Fortschritt..... |
hesmovedon Postings: 87 Registriert seit 20.10.2019 |
2024-12-25 18:01:40 Uhr
Einige Gänsehautmomente. Könnte glatt als Radiohead-Klassiker durchgehen. |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34186 Registriert seit 07.06.2013 |
2024-11-13 23:44:36 Uhr
Ich könnte mich so in "I quit" reinlegen. Auf Kopfhörern ein absoluter Traum. |
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Referenzen
Radiohead; Thom Yorke; Atoms For Peace; EOB; Phil Selway; Jonny Greenwood; Moderat; Home Video; Foals; Grandaddy; Blur; The Cooper Temple Clause; Grizzly Bear; Daniel Rossen; The Most Serene Republic; Broken Social Scene; James Blake; Tortoise; Deerhunter; Talk Talk; TV On The Radio; Menomena; Brian Eno; Philip Glass; Elbow; Kashmir; The Notwist; Lali Puna; Ms. John Soda; Four Tet; Mice Parade; Animal Collective; Panda Bear; Avey Tare; The Books; Windmill; Psapp; Ramona Falls; Menomena; Portishead; Beak>; Massive Attack; Tricky; Apparat; Modeselektor; Flying Lotus; Burial; Emika; MJ Cole; Boards Of Canada; Aphex Twin; Autechre; Sons Of Kemet; Can; Neu!; Faust; Björk; The Sugarcubes; The Rapture; !!!; Clinic; Phantom Ghost; Gang Of Four; Public Image Limited; Bloc Party; Django Django; Roxy Music; The Unwinding Hours; Lotus Plaza
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