Meshell Ndegeocello - The Omnichord Real Book
Blue Note / Universal
VÖ: 16.06.2023
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10
Neue Standards
"They're calling me / Back to the stars / Deep out of space." Musik sei laut Meshell Ndegeocello ein Raumschiff, und "Virgo" nimmt diese Metapher wörtlich. Im achteinhalbminütigen Schlüsselstück ihres 13. Studioalbums formt Ndegeocellos Synth-Bass gemeinsam mit Brandee Youngers Harfe und Julius Rodriguez' Farfisa-Orgel einen vielschichtigen Groove, der zielsicher in den Kosmos abhebt. "The Omnichord Real Book" versammelt trotz seines Titels – ein Real Book ist eine in verschiedenen Ausgaben erhältliche Leadsheet-Sammlung von Jazz-Standards – keine Neuinterpretationen, sondern eine Reihe solcher originärer Wunder-Kompositionen. Die Veröffentlichung auf dem legendären Label Blue Note sowie die sich aus kontemporären Szene-Größen speisende Gästeliste rücken die Musik der US-Amerikanerin in explizite Jazz-Nähe, doch greift diese Kategorisierung viel zu kurz. Was die immer noch sträflich unterschätzte Bassistin, Sängerin, Rapperin, Band-Leaderin hier zwischen Neo-Soul, Funk und genreloser Songwriting-Kunst aus dem Ärmel schüttelt, vereint Virtuosität und Zugänglichkeit auf eine Art, die der Entstehungsprozess der Platte nicht gerade vorauswies.
Ndegeocello erschuf die Fundamente der 18 Tracks nämlich auf einem Omnichord: einem kuriosen japanischen E-Instrument mit eingebautem Drumcomputer, das harfenähnliche Töne erzeugt. Auf dem fertigen Album ist davon nur noch wenig zu hören, aber gerade zu Beginn gibt es Spuren. Simple Beats pflastern in "Georgia Ave." und "An invitation" den Weg für Josh Johnsons Saxofon, das auch dem Americana-nahen "Good good" die Schleife aufsetzt. In "Omnipuss" darf das Omnichord zu einem ungleich komplexeren Rhythmusgeflecht beitragen, ehe mit "Clear water" der endgültige Bruch zu einem vollen Bandsound erfolgt. Jeff Parkers Sumpfwasser ausschüttende Licks fließen hier in ein Sly Stone stolz machendes Psych-Funk-Biest hinein, das trotz instrumentaler Abzweige seinen klaren Groove nicht aus dem Blick verliert. "Be at peace within the chaos", heißt es nicht umsonst im initialen Spoken-Word-Part.
Der Tortoise-Gitarrist bleibt auch für das abstraktere, aber sogar noch packendere "ASR" auf der Matte stehen, um am Ende die Saiten in ungeahnte poetische Höhen sprießen zu lassen. So sehr Ndegeocello und ihre wechselnden Mitstreiter*innen im Bewegungsrausch beeindrucken, beweisen sie ihre Hochklasse auch in minimalistischen, ruhigeren Kontexten. "Gatsby", ein Cover des Pianisten Samora Pinderhughes, ist eine hochsensible Ballade, die gemeinsam mit Joan As Police Woman von der Desillusionierung singt: "I built a castle out of dreams and pretty scenes / Woke up and it was missing." Cory Henry sitzt hier an den Tasten, bevor er für die kleine Meditation "Perceptions" den Staffelstab an den nicht weniger talentierten Kollegen Jason Moran übergibt. Dazwischen klingt das von Joel Ross' Vibraphon akzentuierte "Towers" wie der nötige Schulterklopfer, versteckt unter seinem aufmunternden Wohlklang jedoch Reflexionen über Verlust und Zusammenbruch. Der Tod von Ndegeocellos Eltern geistert durch die Platte, was selbst einer wortlosen Ambient-Skizze wie "Oneelevensixteen" Bedeutung gibt.
Jener Track ist interessant platziert, weil er wie ein stilles Vakuum zwischen zwei Energiebündeln steht. Brodelt "Burn progression" mit Ambrose Akinmusires später freidrehender Trompete noch erwartungsvoll, lässt das von der Südafrikanerin Thandiswa angestachelte "Vuma" die Party komplett explodieren. Es ist die hier zum Ausdruck kommende Struktur, die "The Omnichord Real Book" mit letzter Konsequenz zu einem von Ndegeocellos besten Alben erhebt. Die unterschiedlichen Einflüsse und Stimmungen verdichten sich zu thematischen und stilistischen Einheiten, scheuen sich im Sinne einer gleichsam nachvollziehbaren wie dynamischen Spannungskurve jedoch nie vor Brüchen. Das famose "The 5th dimension" konzentriert dieses Temperament in einem einzigen Song, wenn es von seinem Stochern im Piano-Nebel aus zum furios getrommelten Sprint ansetzt. Im Anschluss dekonstruiert das hier beitragende Gesangstrio The HawtPlates das Kinderlied "There's a hole in my bucket" fast a capella zum Soul-Wunder. Als wäre das nicht Überraschung genug, beendet ausgerechnet eine von Oliver Lake umarrangierte Version des eingangs erwähnten "Virgo" die Reise und schließt den Kreis. Zurück zu den Sternen, immer tiefer ins All.
Highlights
- ASR (feat. Jeff Parker)
- Gatsby (feat. Cory Henry & Joan As Police Woman)
- Virgo (feat. Brandee Younger & Julius Rodriguez)
- The 5th dimension (feat. The HawtPlates)
Tracklist
- Georgia Ave. (feat. Josh Johnson)
- An invitation
- Call the tune
- Good good (feat. Jade Hicks & Josh Johnson)
- Omnipuss
- Clear water (feat. Deantoni Parks, Jeff Parker & Sanford Biggers)
- ASR (feat. Jeff Parker)
- Gatsby (feat. Cory Henry & Joan As Police Woman)
- Towers (feat. Joel Ross)
- Perceptions (feat. Jason Moran)
- Tha king (feat. Thandiswa)
- Virgo (feat. Brandee Younger & Julius Rodriguez)
- Burn progression (feat. Hanna Benn & Ambrose Akinmusire)
- Oneelevensixteen
- Vuma (feat. Thandiswa & Joel Ross)
- The 5th dimension (feat. The HawtPlates)
- Hole in the bucket (feat. The HawtPlates)
- Virgo 3 (feat. Oliver Lake (Arr.), Mark Guiliana, Brandee Younger & Josh Johnson)
Gesamtspielzeit: 72:30 min.
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