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Blonde Redhead - Sit down for dinner

Blonde Redhead- Sit down for dinner

Partisan / PIAS / Rough Trade
VÖ: 29.09.2023

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Im Sinne der Sehnsucht

Gemütlichkeit, Gastfreundschaft, Beisammensein: Mit der Aufforderung "Sit down for dinner" gehen angenehme Assoziationen einher, doch für Schriftstellerin Joan Didion wurde das gemeinsame Abendessen eines Dezembertages zum Alptraum, als ihr Ehemann einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Von "The year of magical thinking", Didions Reflexion über diesen Vorfall, sei das zehnte Album von Blonde Redhead inspiriert. Das passt: Die Musik der New Yorker Band um Kazu Makino sowie die Zwillingsbrüder Amedeo und Simone Pace durchzog schon immer eine rätselhafte Abgründigkeit, egal, ob sie in den Neunzigern noch mit Noise kokettierte oder in den Nullerjahren ihre größten Meisterwerke aus einem eigenwilligen Verständnis von Dreampop schürfte. Nach dem ungewohnt schläfrigen "Penny sparkle" und dem mutigeren, aber arg durchwachsenen "Barragán" pausierten Blonde Redhead nicht gerade auf dem Karriere-Höhepunkt – umso schöner, dass rund eine Dekade nach letztgenannter Platte "Sit down for dinner" wieder mit ihren besten Werken mithalten kann. So warm wie hier klangen Makino und die Paces noch nie, doch zerrt an den Rändern des größtenteils akustisch gehaltenen Wohlklangs nicht nur textlich die Vergänglichkeit.

Das erste Wort hat Amedeo. In einer leider nicht wirklich endlosen Hypnose gleitet seine Stimme über die Jangle-Gitarren des Openers "Snowman", während sein Bruder mit dezent brasilianisch anmutender Percussion die kreativen Flammen lodern lässt. "Do you ever know what kind of love calls?", wundert sich Amedeo, dabei sind die Tracks mit seinem Lead-Gesang von ausnehmender Klarheit geprägt. "I really care about you", singt er ganz unverschlüsselt in "Not for me", das mit geschmeidigem Siebziger-Soft-Rock-Schwung die Westküste entlangfährt. "I thought you should know" holt mit Gospel-Piano zur stadionumspannenden Balladen-Geste aus, ehe der Elektro-Art-Pop von "If" das Talent der Band fokussiert, simple, zärtliche Kleinode mit rhythmischen Vertracktheiten auszuschmücken, ohne sie zu überladen. Makino, deren Stimme natürlich weiterhin die dominante ist, umgibt eine mysteriösere Aura als ihr Kollege, auch wenn sie für eine gute Hook wie in "Kiss her kiss her" immer wieder aus dieser ausbricht. Diese Dynamik ist bezeichnend für "Sit down for dinner" im Gesamten, dessen Songs aus einer Zwischenwelt heraus nach Nähe streben – im Sinne der Sehnsucht muss ein pandemiebedingt distanzierter Aufnahmeprozess nicht nur Nachteile haben.

Die einnehmendste Faszination strahlt das irreführend betitelte "Melody experiment" aus: Über einem TripHop-artigen Beat erstrecken sich wundersame Klangschichten, Makino deklariert den interstellaren Eskapismus und am instrumentalen Ende treiben Gitarre und Synths wahrlich über die Stratosphäre hinaus. Wie im Kontrast dazu kommt "Rest of her life" im Anschluss mit kaum mehr als gestreichelten Saiten und sich überlappenden Vocal-Spuren aus. Dualismus-Symbolik wird gerade bei zweistimmigen Bands gerne überstrapaziert, doch Blonde Redhead scheinen eine solche selbst zu befeuern, indem sie den Titeltrack zweiteilen. Schwebt der erste Part noch im Äther, schmeißt der zweite den Drumcomputer-Puls an, um die zentralen, Didion zitierenden Zeilen "Sit down for dinner / And the life as you know, it ends / No pity", von den Füßen zu reißen. Wenn der Tod uns irgendwann eh erwischt, können wir auch gleich auf der Tanzfläche bleiben. Das denkt sich auch "Before", das als zielstrebigster Hit des Albums das Momentum aufgreift. "Via Savona" setzt ohne Worte, aber mit enormer emotionaler Ausdruckskraft den Schlussstrich unter ein Werk, das einer Andeutung Makinos zufolge das letzte von Blonde Redhead sein könnte – und verfestigt bei allem Bedauern den Eindruck, dass es einen würdigeren Schwanengesang kaum geben könnte.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Snowman
  • Kiss her kiss her
  • Melody experiment
  • Before

Tracklist

  1. Snowman
  2. Kiss her kiss her
  3. Not for me
  4. Melody experiment
  5. Rest of her life
  6. Sit down for dinner, pt. 1
  7. Sit down for dinner, pt. 2
  8. I think you should know
  9. Before
  10. If
  11. Via Savona

Gesamtspielzeit: 48:26 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

myx

Postings: 5322

Registriert seit 16.10.2016

2024-01-30 20:53:37 Uhr
Vielen Dank, Old Nobody. "Snowman", "Melody Experiment", "Kiss Her Kiss Her" – alles traumhafte Songs und eine wirklich schöne Performance.

Die nächste, hoffentlich, Chance auf einen Konzertbesuch in nicht allzu weiter Ferne werde ich ebenfalls beim Schopf packen.

Gomes21

Postings: 5278

Registriert seit 20.06.2013

2024-01-30 18:56:46 Uhr
Melody Experiment ist einer meiner liebsten Songs des letzten Jahres. Danke für den KEXP-Link!

Old Nobody

User und News-Scout

Postings: 3916

Registriert seit 14.03.2017

2024-01-30 17:50:17 Uhr
Schöne Perfomance bei KEXP mit meinem Lieblings-Host Cheryl Waters

Was ich doch immer wieder für ein Idiot bin,dass ich nicht alleine zu Konzerten fahre weil der Rückweg dann einfach endlos ätzend ist.Das war früher mal anders.Dadurch das Konzert neulich in Köln nicht gesehen.Sich selbst im Weg stehen ist halt wichtiger :D

Songs:
Sit Down For Dinner (Part 1)
Sit Down For Dinner (Part 2)
Snowman
Melody Experiment
Kiss Her Kiss Her


myx

Postings: 5322

Registriert seit 16.10.2016

2024-01-05 00:10:21 Uhr
Rezi noch nicht studiert, aber möchte vor dem Schlafengehen noch schnell loswerden, dass mich die verdiente Berücksichtigung auch sehr freut. :)

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 27807

Registriert seit 08.01.2012

2024-01-04 21:42:31 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

"Vergessene Perle 2023".

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