Leto - Leben und tot
Rookie / Indigo
VÖ: 17.11.2023
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Rohe Botschaft
Sprache spiegelt unsere Einstellungen und Gewohnheiten wider. Weil wir täglich kommunizieren, wirken auch im Grunde unlogische oder seltsame Aussagen wie gewöhnlicher Sprachgebrauch. Hier lohnt es sich manchmal, genauer hinzuschauen, etwa wie eine Gesellschaft es mit geflügelten Begrifflichkeiten hält. Erst recht in einem Land, in dem schnöde Antworten wie "War ganz gut" oder "Konnte man essen" in so mancher Region als Komplimente gelten, wenn der Küchenchef sich nach der Güte der servierten Mahlzeit erkundigt. In einer Gesellschaft, die gern jenes "Das ist zu viel des Guten" bemüht, wenn es nicht einmal um wirklich Gutes geht. Wo kämen wir auch hin, wenn Gutes wertgeschätzt würde? Zu viel Zufriedenheit schadet bekanntlich dem Wirtschaftswachstum.
Wenn man Leto aus Hamburg eines nicht vorhalten kann, ist es fehlende sprachliche Klarheit. Den eingangs thematisierten Allgemeinplatz entzaubern sie gleich zu Beginn. "Zu viel des Guten gibt es nicht!" prescht der pumpende, hervorragende Opener "Süchtig nach allem" voran. Im Paket bringen Leto sowieso vieles mit, weswegen Freunden des Genres spätestens seit dem tollen Vorgänger "Wider" die Ohren übergehen. Und auch "Leben und tot" bringt vieles mit. Da ist die Kratzbürstigkeit von Adolar zu spüren, in gewisser Weise Pioniere der jüngeren Post-Punk-Bewegung. Da sind raffinierte Gitarrenschleifen, wie sie Turbostaat seit langem pflegen, da gibt es immer wieder Überraschungen im Songwriting. Und Vokalist Jannes von Richthofen pendelt meistens passend zwischen Gesang und spontanem Geschrei. Und selbst wenn er wie im ungewohnt geradeaus gehaltenen "Der tote Baron" ein wenig Sebastian-Madsen-Vibes versprüht, wahren Leto inmitten des unten zu checkenden Referenz-Gewitters den eigenen Stempel, den sie mit ausreichend Tinte versehen.
Druck und Energie sind dabei nur zwei Kennzeichen dieses Albums, die immer wieder auch mit luftigen, eingängigen Pop-Momenten angefüttert werden, wie etwa in "Alles ist Resonanz". Subtil baut das vorerst schnelle, dann drückende "Pronomina" Intensität auf, lyrisch einer der stärksten Tracks des Albums. Leto richten das Brennglas auf unsere immer mehr auf Ego und rücksichtslosen Individualismus abgerichtete Gesellschaft, auf das Schwinden der Solidarität: "Wir stehen so nah / Verschieben die Pronomina / Aus wir Du und ich / Aus uns ein Sich / Aus alle ein Nichts". "Sechs" poltert vom Start weg voran, schafft hintenraus trotzdem noch eine Steigerung der Intensität. "Das Hirn mag keine Veränderung" konstatieren Leto zu Recht, von Richthofens Stimme bricht ein weiteres Mal in Richtung Gebrüll aus.
Dass Leto die womöglich stärksten Tracks für den Schluss aufbewahren, steht dieser Band nicht nur gut zu Gesicht, sondern zeigt auch die gemeinsam gewonnene Reife. Der nordische Vierer musiziert noch immer in der Urbesetzung, mittlerweile sind sie auch Familienväter. Aufgaben verschieben sich, Verantwortungen ändern sich. Aber die kritische Stimme bleibt – umso wichtiger in stürmischen Zeiten. Während der drückende Post-Punk des Closers "Infarkt" gefühlt Gewichte an all jene fortschrittlichen Beine hängt, die sich noch bewegen wollen, hält der Punkrocker "Blackbox lost" der aktuellen Debattenkultur im Land den Spiegel vor. Zeugt von aufgebauschten Themen, von radikalen Stimmen, die mit Erfolg einen Keil in die Mitte der Gesellschaft treiben. "Es fließt seit Jahren Pech und Schwefel / Statt Fakten Fackeln und beschweren / Löscht die Debatte / Die niemals eine war." Spiegelt die Verrohung der Sprache eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft? Können wir das alles noch einfangen? Mit Antworten tut sich auch "Leben und tot" schwer, aber hält die langsam resignierenden Sinne wach. Immerhin.
Highlights
- Süchtig nach allem
- Pronomina
- Blackbox lost
- Infarkt
Tracklist
- Süchtig nach allem
- Der tote Baron
- Pronomina
- 31 Fehler
- Wandsbek bei Regen
- Sechs
- Bei Jobs, die man nicht erklären kann, fließt das Geld entlang
- Alles ist Resonanz
- Ostfriesland
- Blackbox lost
- Infarkt
Gesamtspielzeit: 36:42 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Obrac Postings: 2422 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-11-23 17:06:13 Uhr
Müsste es nicht "Leben und Tod" oder "lebendig und tot" heißen? Aber ist wahrscheinlich so beabsichtigt. Voll der Hirnfick, Junge. |
Kai User und News-Scout Postings: 2948 Registriert seit 25.02.2014 |
2023-11-23 16:49:45 Uhr
Ich find die Scheibe recht gut. Eine richtige Weiterentwicklung seit Wider sehe ich nicht aber schlechter ist das Album auch nicht.Die 7 passt da perfekt. |
sizeofanocean Postings: 1411 Registriert seit 27.01.2020 |
2023-11-23 16:48:05 Uhr
"Druck und Energie sind nur zwei Kennzeichen eines Albums, die auch mit luftigen Pop-Momenten angefüttert werden."der Satz verknotet mir die Synapsen |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27184 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-11-22 22:00:28 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
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