Earl Sweatshirt & The Alchemist - Voir dire
Tan Cressida / ALC / Gala / Warner
VÖ: 06.10.2023
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
Kein Geheimnis mehr
Angeblich gibt es dieses so lang ersehnte Kollabo-Album schon seit 2019 anonym auf YouTube. Diese oder ähnlich kryptische Antworten gab Alan Daniel Maman alias The Alchemist gebetsmühlenartig, wenn Fans ihn auf eine gemeinsame Platte mit Earl Sweatshirt ansprachen. Gemeinsame Songs wie "Nobles", "Loose change" oder vor allem "E. Coli" deuteten bereits diese besonders smoothe Chemie an, welche mit "Voir dire" nun in einem Kollabo-Album verewigt wurde. Endlich treffen einer der kauzigsten wie begnadetsten Conscious-Rapper auf den vielleicht feingeistigsten HipHop-Produzenten unserer Zeit. Hier würde jetzt noch ein "auf Albumlänge" gut passen, aber auf einen sogenannten Longplayer mit merklich mehr als einer halben Stunde Spielzeit warten wir bei Thebe Neruda Kgositsile aka Earl Sweatshirt seit dem Debüt "Doris" (2013) vergeblich. Qualitativ jedoch erfüllt diese Veröffentlichung, deren Albumtitel uns übersetzt auffordert, die Wahrheit auszusprechen, alle hohen Erwartungen gefühlt mühelos. Wenig überraschend auch, dass sich der Vibe irgendwo zwischen düster und virtuos oder lieblich und melancholisch bewegt, doch genau auf diese Fusion wurde eben jahrelang gewartet. Das Ergebnis klingt so harmonisch, so ergiebig, so exzellent, man kann und sollte es locker mehrmals am Stück hören.
Keiner der elf Tracks enttäuscht, die spärlichen Features ergeben viel Sinn und beide Beteiligten lassen ihren musikalischen Eigenarten freien Lauf. Die Reime von Earl Sweatshirt bleiben intelligent wie pessimistisch, sein trockener Flow so einzigartig, dass er selbst so fantastisch kompakte Instrumentals wie bei "Dead zone" in den Schatten stellt. The Alchemist wiederum beweist sein meisterhaftes Gespür für elegante Samples und stark platzierte wie abstrakte Übergänge bei unendlicher Liebe fürs Detail. Wem sonst würde heutzutage eine Produktion wie "Vin Skully" gelingen? Schon das einleitende Voice-Sample des anscheinend legendären Baseball-Kommentators Vincent Scully erzeugt eine epische Stimmung, umso bedauerlicher, dass genau diese Stelle – womöglich aus Lizenzgründen – aus der Streaming-Version entfernt wurde. Schade drum, der Track selbst lebt aber auch so schon von der Spannung zwischen eigentlich behaglichen Voice- und Gitarren-Samples und bedrückenden Lyrics über PTSD und Depressionen: "How to stay afloat in a bottomless pit / The trick is to stop fallin'." Die erwähnte Chemie der beiden Protagonisten kommt genau an solchen Stellen am besten zur Geltung, eine schön bittersüße Stimmung zwischen ernsthafter Trauerverarbeitung und kreativer Höchstleistung. Noch mehr davon gibt uns "Mac Deuce", das zwischen den Zeilen durchaus auf den Verlust von Mac Miller anspielen könnte, während musikalisch insbesondere die verspielten Samples am Anfang und der sanfte Fadeout zum Schluss überragen.
Die Lead-Single "Sentry" bietet ein faszinierendes Sound-Gebilde, gestützt unter anderem von Gospelchorgesang und fein dosierter Psychedelik, dazu kommt ein passionierter Mike-Gastpart. Und obwohl dieser Track schon tadellos wirkt, so sind die Features mit Vince Staples sogar noch besser. "Mancala" versprüht durch das ausgiebige Piano-Sample ansteckende Leichtigkeit, einer der absoluten Höhepunkte aber ist das wuchtige "The caliphate". Allein schon wie Earl Sweatshirt hier einleitet, ist nicht weniger als mustergültig, wie ein Elite-Hochschulseminar für Writing-Technik: "It gave me no release to hope for peace, we postal now / Over East, corroded sheet metal, my toe just found / He let it go, brodie left the heat on the coldest ground / To wrap around the wound unwound." Abgehen von der mit gelungenen Metaphern gefüllten Bildsprache können sich hier alle Rap-Nerds über ein dreisilbiges Reimschema freuen, das sogar mit einem viersilbigen Reim endet. Wer damit jetzt nicht so viel anfangen kann, braucht einfach nur zu wissen, dass solche lyrischen Feinheiten leider immer seltener werden. Die Detailverliebtheit, welche The Alchemist bei Samples und Produktionen so sensationell beherrscht, trifft hier also auf einen der geschicktesten Texter im modernen Rap. Herausgekommen ist wirklich große Kunst. Aber, um der im Albumtitel geforderten Wahrheit treu zu bleiben, das überrascht bei diesen Beteiligten niemanden mehr.
Highlights
- Vin Skully
- Mac Deuce
- Dead zone
- The caliphate (feat. Vince Staples)
Tracklist
- 100 High Street
- Vin Skully
- Sentry (feat. Mike)
- Heat check
- Mancala (feat. Vince Staples)
- 27 braids
- Mac Deuce
- Sirius Blac
- Dead zone
- The caliphate (feat. Vince Staples)
- Free the ruler
Gesamtspielzeit: 26:43 min.
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2023-11-22 21:59:16 Uhr - Newsbeitrag
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Referenzen
Earl Sweatshirt; The Alchemist; Vince Staples; Madvillain; Flatbush Zombies; Meechy Darko; Isaiah Rashad; Run The Jewels; Schoolboy Q; Doom; Tyler, The Creator; Saba; Frank Ocean; Ab-Soul; Mike; Standing On The Corner; Hodgy Beats; Jeremiah Jae; Domo Genesis; Danny Brown; Aesop Rock; Death Grips; Mac Miller; J Dilla; Raekwon; Wu-Tang Clan; Ghostface Killah; Method Man; GZA; RZA; Jay Rock; Denzel Curry; Mobb Deep; Nas; Pusha T; Joey Bada$$; Kendrick Lamar; A$AP Rocky; Domo Genesis; Odd Future; Jpegmafia; Freddie Gibbs; Westside Gunn; Kevin Abstract; Injury Reserve; Navy Blue; Nujabes; Mach-Hommy; Roc Marciano; Benny The Butcher; Taylor Myers; Sideshow
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- Earl Sweatshirt & The Alchemist - Voir dire (1 Beiträge / Letzter am 22.11.2023 - 21:59 Uhr)