Glasser - Crux
One Little Independent / Bertus
VÖ: 06.10.2023
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Das Gipfelkreuz im Polareis
Das war ja mal wieder äußerst clever. Da Björk kein gesteigertes Interesse an besonders zugänglicher Musik mehr zu haben scheint, hat ihr Label One Little Independent als Ersatz kurzerhand Cameron Mesirow unter Vertrag genommen. Okay, sagte sich Mesirow, den Deal nehme ich an – aber wenn ich schon zehn Jahre für meine dritte Platte benötige, kann ich den Hörer damit ja wohl auch ein wenig herausfordern. Und schon haben wir die "Crux". Doch nicht so clever?
Schon das erste Glasser-Album "Ring" konnten die Kollegen von Pitchfork nur schwer beschreiben. Das war elektronische Popmusik, aber welche mit TripHop- und Tribal-Elementen, dazu gern mit einer Herangehensweise jenseits klassischer Songstrukturen. Der Nachfolger "Interiors" richtete den Blick stärker ins Innere – und danach verlor Mesirow, die zwischenzeitlich unter anderem im MoMA New York Auftritte im Kunstkontext sowie als Support von The xx oder Jónsi absolvierte, irgendwie die Motivation fürs Songwriting. Interessanterweise brachte sie das Erlernen von Gesangsstilen des Balkans zurück in die Spur. Diese sind nun dezent in "Crux" eingeflossen, ebenso wie keltische Folkeinflüsse. Aber im Kern bleibt es zu großen Teilen experimentelle elektronische Musik mit kühlen Sounds.
Und zwar von der unberechenbaren Sorte, was diese Platte so spannend macht. Da stehen mehrstimmige Choräle neben allerfeinst knuspernden Klanglandschaften, während es lyrisch oft um den Tod und die Verarbeitung der zahlreichen Fallstricke des Lebens geht, ohne den Hörer jedoch mit Schwere zu erschlagen. Gutes Beispiel Nummer eins gleich zu Anfang: "A guide" behandelt den Tod von Mesirows erster großer Liebe durch eine Fentanyl-Überdosis, ein vor allem in Nordamerika seit ein paar Jahren verstärkt grassierendes Suchtmittel. Mesirow wohnte der Trauerfeier via Zoom bei – es war das Jahr 2020 – und nahm direkt im Anschluss dieses sanft durch den Äther schwebende Kleinod auf. Beispiel Nummer zwei: "Easy", das den gleichen verstorbenen Ex-Freund zum Thema hat, aber voller positiver Schwingungen steckt – und sicherlich der poppigste Song der Platte. "Easy come, easy go, hard to let go" – wenige Worte, doch sie berühren tief.
Zwischen diese beiden Stücke hat sie mit "Vine" mal eben einen nun wirklich björkesken Trip zwischen Scandic Noir, Breakbeats und Jazz gepackt, der in seinen drei Minuten mehr Finesse enthält als anderswo ganze Karrieren. Später bezaubert das wahrhaft himmlische "Mass love", das tatsächlich im Himmel entstand – nämlich auf einem Flug, umgeben von abermals düsteren Gedanken über Leben und Tod angesichts der gerade heftig ausbrechenden Pandemie. Auch "All lovers", neben dem kraftvollen Gesang von einem tief ins Gebein schiebenden Synthesizer geprägt, zählt zu den Höhepunkten. Und gerade als man denkt, hintenraus wird es doch etwas besinnlich, fährt bei "Drift" nach anderthalb Minuten ein satter Tanzbeat um die Kurve und wirbelt "Ophrys" mit Sounds wie aus Portisheads "Third" herum. Bevor zum Schluss der ganze Chor auf die Knie geht. Vor der musikalischen Klasse dieser Künstlerin.
Highlights
- Vine
- Easy
- Mass love
- Drift
Tracklist
- A guide
- Vine
- Easy
- Knave
- Mass love
- Thick waltz
- All lovers
- Clipt
- Undrunk
- Drift
- Ophrys
- Choir prayer
Gesamtspielzeit: 43:54 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2023-11-08 22:07:30 Uhr
Schön, dass sie doch noch eine Rezi bekommen hat, ich war kurz davor, das Album auf die Kette der vergessenen Perlen zu fädeln... |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27512 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-11-08 21:58:20 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
ichreitepferd Postings: 913 Registriert seit 22.04.2021 |
2023-10-10 11:12:13 Uhr
starke Björk Vibes beim ersten Hören gehabt und macht daher auch Sinn auf dem Label zu veröffentlichen |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2023-10-09 22:27:18 Uhr
Nachdem ich 10 Minuten gebraucht habe, um zu entscheiden, ob ich den Albumtitel groß oder klein schreiben soll, mache ich es jetzt lieber kurz: Großartiges drittes Album von Glasser! Ich hoffe auf eine schöne Rezension mit AdW-Auszeichnung.‘crux’ takes Glasser’s entrancing blend of dreamy experimental pop and layered electronics to explore themes of personal identity, emotional vulnerability, and the human experience. Crux auf bandcamp. |
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Referenzen
Björk; Eivør; Fever Ray; The Knife; Bat For Lashes; Zola Jesus; Austra; Poliça; Grimes; Susanne Sundfør; Nadine Shah; Jónsi; Sigur Rós; Portishead; Kate Bush; Ela Minus; Sylvan Esso; Esben And The Witch; Planningtorock; Mitski; St. Vincent; Soap&Skin; Dillon; Cocteau Twins; Lamb; Mila Mar; The xx; These New Puritans; Jehnny Beth; Siouxsie & The Banshees; Matmos; Múm
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