Jeremias - Von Wind und Anonymität
Vertigo / Universal
VÖ: 22.09.2023
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Zu schön um wahr zu sein
Jetzt mal ganz ehrlich: Jeremias haben das mit der (gar nicht mal so leichten) Navigation durch den hypegetränkten und nicht immer langlebigen Kosmos des deutschen Indie-Pop bisher durchaus clever gemacht. Wo andernorts die große Single grell leuchtete oder die bedeutungsschwangeren Posen um Aufmerksamkeit buhlten, wählten die vier Hannoveraner den weg des subtilen Understatements. "Golden hour"" war anno 2021 keineswegs ein omnipräsenter Banger, sondern vielmehr ein Sleeper-Hit, der nach und nach seine Kreise durch die hiesige Musikwelt zog. Was sicherlich auch am Soundkorsett des Vierers liegt: Ganz gemäß seines Titels war "Golden hour" eine Collage von schwülen, spätsommerlichen Songs mit feinen Melodien, leicht kryptischen Lyrics und einer betont verschrobenen Vortragsweise. Pseudo-artsy Hipsterkram oder so? Schon, aber immerhin gut gemacht. Offen blieb allerdings die Frage nach der Halbwertszeit des Jeremias-Sounds, der nun auf "Von Wind und Anonymität" die Feuertaufe des sagenumwobenen zweiten Albums bestehen muss.
Insbesondere auf der ersten Hälfte von "Von Wind und Anonymität" zeigt sich deutlich, warum Jeremias schon seit geraumer Zeit aus dem schwülstigen Deutsch-Indie-Pfropf herausstechen. Als habe die Band etwas zu beweisen, wird hier ganz konsequent mit etwaigen Erwartungshaltungen gespielt – das beginnt direkt im mit heftigem Autotune-Einsatz verzerrten, fragmentierten "Der Schmerz ist vorbei". "Warum tut das nur so weh, wenn jemand von uns geht?", klagt Sänger Jeremias Heimbach hinaus in den Äther. Antworten gibt es keine, wohl aber ein faszinierendes Statement zum Einstieg in die Welt der Hannoveraner im Jahr 2023. Überhaupt sind es die Ausreißer im Klangkosmos des Quartetts, die hier besonders viel Spaß – oder eben auch tiefgreifende Emotionen – hervorrufen. "Verrückt" ersetzt die Betonwüste der niedersächsischen Landeshauptstadt durch die schillernden Vibes von Miami Beach und suhlt sich ganz ungeniert im Achtzigerjahre-Synthpop. Eighties-Revival, die Drölfzigste? Kein Problem, wenn ein solch stimmiger, neongetränkter Pop-Hit dabei rauskommt: "Ich fühl' alles für Dich mit." Die emotionalen Dämme brechen spätestens dann, wenn Heimbach im elegischen, von Chören und pastoralem Gesang getragenen "97" die Zäsur zur Albummitte einleitet und entrückt über Identitätskrisen, Unsicherheiten und tiefe emotionale Abgründe sinniert. Völlig unerwartet und gleichzeitig genauso gelungen. Chapeau.
Was Jeremias auf "Von Wind und Anonymität" abliefern, ist häufig begeisternd. Ebendieser Umstand wird dem Album allerdings – wenn auch auf hohem Niveau – ein wenig zum Verhängnis: Neben den Glanzlichtern und zahlreichen grundsoliden Tracks wie dem fluffigen "Egoist" oder dem groovigen "Es hört nicht auf" wirkt die 15 Songs umfassende Tracklist hier und da ein bisschen aufgebläht. Besonders im späteren Albumverlauf fehlen die ganz großen Momente, die Unmittelbarkeit, die emotionalen Schocker. Ja, "Unique" baut ein paar lässige Latin-Anleihen in die Songstruktur ein. Ja, "Wir haben den Winter überlebt" ist ein solider Pop-Song. Hängenbleiben will all das leider nicht so recht – vielleicht einfach, weil man hier an anderer Stelle qualitativ deutlich stärker unterwegs ist. Und dennoch haben Jeremias den vermeintlichen Fluch des verflixten zweiten Albums souverän umschifft. Einhundert Prozent sattelfest mag die Identität als Band noch nicht sitzen, aber wozu denn auch? "Wir suchen überall / Und finden aber nichts / Mein Platz ist hier, wo das auch immer gerade ist."
Highlights
- Der Schmerz ist vorbei
- Verrückt
- 97
Tracklist
- Der Schmerz ist vorbei
- Clown zum Freak
- Verrückt
- Wir haben den Winter überlebt
- Egoist
- Da für Dich
- 97
- Hier
- Unique
- Julia
- Mit Dir kann ich alleine sein
- Goldmund
- Es hört nicht auf
- Pasajero
- Stille
Gesamtspielzeit: 44:16 min.
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