Julia Engelmann - Splitter

Polydor / Universal
VÖ: 08.09.2023
Unsere Bewertung: 4/10
Eure Ø-Bewertung: 3/10

Immer Ich
"Wie schreibt man nochmal ein Gedicht?", fragt Julia Engelmann an einer Stelle ihres zweiten Soloalbums und schließt zu dezenten, glatten Elektrobeats an: "Meine WhatsApps war'n immer Romane, jetzt sind sie basically nichts." Der Song heißt "Sprachlos", und was sich hier zunächst als krisenhafter Verlust des Ausdrucks ausnimmt – cringy Denglisch inklusive – kippt recht bald in eine schmachtende Hook, die andere Akzente setzt: "Du machst mich mmhmmhmmh …" Das klingt nach Dada, soll die selbstdiagnostizierte Sprachlosigkeit aber wohl mimetisch abbilden und gibt zugleich Rätsel auf. Irgendwie mag sich der Text nicht so recht entscheiden, ob die fehlenden Worte jetzt als glücklicher oder leidvoller Zustand erfahren werden. Das sollte der einst im Poetry Slam bekannt gewordenen Engelmann eventuell zu denken geben. Man kann dem Zitat und den 17 Songs auf "Splitter" aber auch ablauschen, dass sie es mit den oben erwähnten literarischen Gattungen nicht allzu ernst nimmt. "Roman" heißt da dann eher, den eigenen Alltag und das eigene Erleben wiederholt mitzuteilen und zu überhöhen, "Gedicht" versteht sich als eine Aneinanderreihung von klischeehaften Aphorismen, angereichert durch holprige Sprachspiele und erzwungene Reime.
Das gesprochene Intro stellt die im Prinzip einzige Frage des Albums, die exzessiv über 45 Minuten variiert wird: "Was, wenn ich in tausend Teile zerfalle und keiner mich halten kann?" In der Folge arrangiert Engelmann jene Splitter zu einem Raum endloser Selbstbespiegelung, beißt sich an den immer gleichen Problemen die Zähne aus. Warum verändert sich etwas, wenn es doch mal schön war?, lässt sich als Leitmotiv dabei beliebig auf den Prozess des Älterwerdens, scheiternde Beziehungen und Freundschaften applizieren. Als konservatives Credo artikuliert es sich dennoch nur bedingt, da Engelmann die gesamte Außenwelt stets auf die eigene Perspektive abrichtet. Da wird sich gefragt, wie viele Liter durch die Spree fließen, "bis wir uns wiedersehen" ("Vielleicht wird alles wieder gut") oder im eingängigen Elektropop der Hitsingle "Sonne" das Gegenüber aufgefordert: "Nimm mich mit dahin, wo Deine Sonne noch scheint." Ist der Gedanke tatsächlich so unangenehm, dass die Sonne keine Personalpronomen kennt? "Liebst mich" schließlich bekennt: "Ich liebe mich auch, so ist es ja nicht", und bittet kurz darauf: "Hältst Du für mich die Welt an?"
Achtung, Binsenweisheit: Der Wunsch, nicht erwachsen zu sein oder werden zu wollen, treibt häufig Leute an, die dem Primat der Selbstentfaltung nicht abschwören können. Engelmanns Erzählungen äußern ihr Unbehagen dahingehend regelmäßig, ihre Protagonistinnen möchten wieder unbeschwert in WG-Küchen tanzen ("Wie man Freunde verliert") und erklären ratlos: "Alle sagen: Nimm Dein Leben in die Hand / Warum macht es mir immer noch so Angst?" ("Nicht mehr warten") Offenbar trifft das in seiner Ehrlichkeit einen gewissen Zeitgeist, der in der Tradition des Silbermond-Klassikers "Irgendwas bleibt" der Überforderung nachgeben, sich vorrangig mit sich beschäftigen möchte – wirkt aber auch auf verstörende Weise ziel- und ausweglos. Die Singleauskopplung "Rasierwasser & Kastanien" weiß zumindest als hübscher Elektropop-Brief an die Eltern mit manchen einprägsamen Erinnerungsbildern zu gefallen. Engelmann greift ihr Lieblingsthema erneut auf – "Erwachsensein ist, wenn man selbst zum Bäcker geht" – eine Zeile, die durchaus gewitzt eine Zäsur im bürgerlichen Milieu pointiert, wäre sie mit ein wenig mehr Augenzwinkern vorgetragen worden. Immerhin "Wachstumsschmerz" gelingt es in der sanften Schwermut seiner Refrainmelodie, den Reifungsprozess auch mal als etwas Notwendiges, Positives darzustellen.
Musikalisch ist "Splitter" kompetent gelöst, aber rasch auserzählt. Klavier und cleane Beats legen fast immer die Basis, werden mal zu Balladen, dann wieder zu atmosphärischem Chart-Pop addiert. Nach dem Spoken-Word-Interlude zu Streichern, in dem die Sonne tatsächlich gegen den Schmerz und die Dunkelheit durch die Fenster "berstet" (sic!), schließen die Songs thematisch lose aneinander an. Engelmann präsentiert sich nach wie vor nicht als große Sängerin, ihre Stimme trägt dennoch angenehm, wenn sie nicht mit unabsichtlich auffallendem Autotune besprenkelt wird ("Splitter", "Nicht mehr warten"). "Lieder zum Weinen" hält als rein akustische Nummer dagegen und muntert die traurige Gestalt am Rande einer Party auf, bevor es zum unausweichlichen Plot-Twist kommt: "Du bist nämlich ich." Und der Closer "Nur weil ich still bin" hat mit seinem zunächst rasanten, sich später lichtenden Takt fast was von Synth-Pop-Schlager. "Nur weil andere lauter sind, heißt das nicht, dass ich traurig bin", singt Engelmann, nachdem sie vorher dutzendfach den Gegenbeweis geliefert hat. Man fühlt sich fast ein wenig veralbert. Und so hinterlässt "Splitter" den Eindruck prätendierten Tiefgangs, der vielleicht auch nur eine Form von Sprachlosigkeit darstellt. Glücklich macht er jedenfalls nicht.
Highlights
- Rasierwasser & Kastanien
- Wachstumsschmerz
Tracklist
- Prolog
- Rasierwasser & Kastanien
- Bauchgefühl
- Splitter
- Sprachlos
- Wie man Freunde verliert
- Wachstumsschmerz
- Bahnhofstraße 4
- Interlude
- Sonne
- Vielleicht wird ja alles wieder gut
- Irgendwie schön
- Traurige Augen
- Lieder zum Weinen
- Nicht mehr warten
- Liebst mich
- Nur weil ich still bin
Gesamtspielzeit: 44:12 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Autotomate Postings: 5795 Registriert seit 25.10.2014 |
2023-09-18 18:36:37 Uhr
Erst wenn man sich mit sich selbst beschäftigt, wird einem bewusst werden, dass dies am Besten funktioniert, indem man sich mit den anderen beschäftigt (Weissagung der Cree) |
Mr Oh so Postings: 2731 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-09-18 12:17:46 Uhr
Komm Robert, nimm's nicht so schwer. Lass uns durch den Regen tanzen, als gäbe es kein Morgen! |
Robert G. Blume Postings: 877 Registriert seit 07.06.2015 |
2023-09-18 12:10:11 Uhr
Und so hinterlässt "Splitter" den Eindruck prätendierten Tiefgangs, der vielleicht auch nur eine Form von Sprachlosigkeit darstellt. Das ist das, was mich – neben der glattproduzierten Langweilermusik – an dieser ganzen Deutschpoetenpopscheiße am meisten nervt: Die Texte tun immer so deep, dabei sind sie hohl und inhaltsleer. Es ist die ewige Beschäftigung mit sich selbst, nicht zu wissen, irgendwelche Ambivalenzen auszuhalten. Wen interessiert das verdammt nochmal? Ich möchte jeder/m einzelnen dieser „Künstler/innen“ eine Backpfeife geben und sie anschreien: Wir haben eine Welt zu retten, jetzt nehmt euch ma nicht so wichtig und andere bzw. anderes wichtiger. |
joseon Postings: 82 Registriert seit 04.09.2023 |
2023-09-17 21:30:00 Uhr
D.h. also mindestens 7/10 für die neue Joachim Witt? |
Kojiro Postings: 2210 Registriert seit 26.12.2018 |
2023-09-17 21:15:25 Uhr
Aha, aber die Amigos kriegen ne 1/10? Sehr viel deeper ist Julia mitnichten! |
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Referenzen
Lea; Lotte; Max Giesinger; Frida Gold; Mia; Ich + Ich; Adel Tawil; Ina Müller; Barbara Schöneberger; Lena; Tim Bendzko; Anna Depenbusch; Annett Louisan; Paula Hartmann; Mark Forster; Yvonne Catterfeld; Rosenstolz; Gleis 8; Peter Plate; Ulla Meinecke; Jule Neigel; Maike Rosa Vogel; Erdmöbel; Lotto King Karl; Papes Brüder; Stoppok; JaKönigJa; Juliane Werding; Alexandra; Hildegard Knef; Marlene Dietrich; Milva; Meret Becker; Barbara Cuesta; Melissa Lou; 2raumwohnung; Klee; Quarks; Nina Chuba; Wir Sind Helden
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