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Protomartyr - Formal growth in the desert

Protomartyr- Formal growth in the desert

Domino / GoodToGo
VÖ: 02.06.2023

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Auch keine Erlösung

"When the ending comes is it gonna run at us / Like a foreign disease washed upon the beach?" So oder so ähnlich lautete die Frage im Jahr 2020 – treffend antizipiert von Protomartyr in "Processed by the boys", das von Polizeigewalt und Arschlöchern in Uniform handelte, aber genauso gut als prä-apokalyptische Prophezeiung durchging. Zwar spendierten die Detroiter der malmenden Noise-Rock-Walze ein aberwitziges Video mit renitenter Bauchredner-Puppe, viel mehr zu lachen gab es auf "Ultimate success today" jedoch nicht. Zumal die Band laut Sänger Joe Casey von finanziellem Ruin und plötzlicher künstlerischer Inspirationslosigkeit geplagt war. "Worm in Heaven" wirkte gar wie ein schwermütiger, an Nick Cave vorbeigetragener Abgesang. Sich selbst in die Wüste geschickt haben Protomartyr dann aber doch nicht. Zumindest nicht im übertragenen Sinne.

Konkret bezog das Quartett für Album Nummer sechs nämlich ein Studio in der Einöde nahe der Grenze zu Mexiko. "Breaking bad" für Risikoscheue. Benannt ist "Formal growth in the desert" allerdings nach einem Bild des Malers Maxfield Parrish, das drei Maultiere zeigt. Ein dezenter Verweis auf das Cover von "Ultimate success today", und zunächst scheint sich in der Tat nicht allzu viel getan zu haben: Mit dem gedrückten Humpler "Make way" machen Protomartyr ziemlich genau dort weiter, wo der Vorgänger aufhörte – bis eine lärmige Stakkato-Eruption das Stück in die Luft sprengt. Auch "3800 tigers" stellt nicht nur erstaunliche Zusammenhänge zwischen der Anzahl in freier Wildbahn lebender Raubkatzen und Caseys Lieblings-Baseballteam her, sondern senst einen ähnlichen Powerhouse-Rocker in die Luft wie "Michigan hammers". Und trotzdem ist etwas anders.

Denn so nahe wie hier hat der Frontmann sein Publikum noch nie an sich herangelassen – im guten wie im schlechten Sinne. Vor allem präsent ist der Tod seiner an Demenz erkrankten Mutter, den Casey gleich zwei Mal aufgreift: im gravitätisch schwebenden "Graft vs. host", das ihm in den Sinn kam, als er im Elternhaus auf den Leichenwagen wartete, sowie beim geringfügig leichtfüßigeren "The author", in dem er Frieden mit dem schmerzlichen Verlust schließt. Auf "In an empty room where love once was / Sadness running through my mind" folgt "So I figure while you live / Kiss the ones that love you / For the songs you sing" – und Trauer und Dankbarkeit reichen sich die wunde Hand. Nach diesem Pfund nachgerade sensationell beschwingt: "Rain garden", das erste Liebeslied aus der Feder des frisch verlobten Casey. Keine Liebe ist eben auch keine (Er-)Lösung.

Dennoch ist der Mann zuweilen drauf und dran, die Brocken hinzuschmeißen. Der erwähnte Closer wächst dank wallender Melodiebögen zwar beinahe zur Hymne an, und die Zeile "They'll say it's just a love song / But love has found me" kündet tatsächlich von so etwas wie Glück, doch der Weg dorthin ist ein steiniger. Er führt unter anderem über das unruhig am Schlagzeug durchrotierte "Polacrilex kid", das in einem massiven Riff aufgeht und der Frage "Can you hate yourself and still deserve love?" eine versonnene Pedal Steel zur Seite stellt. Starker Tobak aus der persönlichen Hölle – da können die leidgeprüften Protomartyr über das Scheißhaus der Existenz in "Elimination dances" nur müde lächeln. Was ist eine Reise nach Jerusalem mit Stühlen ohne Sitzfläche schließlich schon gegen die Unmöglichkeit, ja zu sagen, ohne an sich selbst zu verzweifeln?

Dass es sich hierbei um einen formidabel fatalistischen Post-Punker voller Wucht in Groove und Licks handelt, sei natürlich nicht verschwiegen. Ebensowenig, dass dieses erneut fantastische Album neben Schicksalsschlägen und vereinzelten emotionalen Glanzlichtern auch zahlreiche tosende Kracher bereithält, die missmutig die Konkursmasse des Lebens verwalten. "For tomorrow" rockt sich temporeich den Frust aus den Klamotten und wirft einen trüben Blick in eine ungewisse Zukunft, "Fun in hi skool" ätzt hämisch über die Idioten, die man schon zu Jugendzeiten nicht ausstehen konnte und piesackt sie mit Holzfäller-Gitarren und Störgeräuschen. Es ist kompliziert? Das muss so. Selbst wenn "Formal growth in the desert" mit einem Mantra-artigen "Kiss me before I go" schließt. Machen wir, Joe. Aber nur, wenn Du mit Deinen Jungs bald wiederkommst.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights

  • Make way
  • Elimination dances
  • Polacrilex kid
  • Rain garden

Tracklist

  1. Make way
  2. For tomorrow
  3. Elimination dances
  4. Fun in hi skool
  5. Let's tip the creator
  6. Graft vs. host
  7. 3800 tigers
  8. Polacrilex kid
  9. Fulfillment center
  10. We know the rats
  11. The author
  12. Rain garden

Gesamtspielzeit: 37:35 min.

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User Beitrag

MopedTobias (Marvin)

Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion

Postings: 19657

Registriert seit 10.09.2013

2023-06-05 17:17:02 Uhr
Ja, super Album wieder. Mir fehlen bisher noch die Über-Songs, die sich bei den Vorgängern im Grunde ab dem ersten Durchgang schon als solche abgesetzt haben (Half sister, Processed by the boys), aber in Richtung 8/10 geht das auf jeden Fall.

Der Untergeher

User und News-Scout

Postings: 1828

Registriert seit 04.12.2015

2023-06-04 13:39:57 Uhr
Von vorne bis hinten stark. Für mich hätten sie einige der Lieder auch noch ausweiten können, aber die Kürze macht sie irgendwie schon auch zwingender und fordern einen zum Wiederhören auf. Guter Flow insgesamt und doch auch ziemlich abwechslunsgreich innerhalb deren Kosmos. Caseys Dringlichkeit in Elimnation Dances (My god I tried to change it) ist ne ganz andere als in Rain Garden, wo er ja quasi croont (auch in Tip the Creator). Generell ist er teils angepisster (Fun in Hi Skool), dann wieder zart und optimistisch (The Autor: Kiss the ones that love you / For thе song you sing. Oder auch Rain Garden: Make way for my love, was ähnlich wie in RID den Bogen zum Anfang des Albums schlägt). Finde die Gitarren ziemlich fein arrangiert, die Basslinien wie immer sau geil und die Drum-Riffs so gut wie seit der RID nicht. Und die Synthies! Ich bin begeistert.

fakeboy

Postings: 3748

Registriert seit 21.08.2019

2023-06-03 20:49:50 Uhr
Heute rein in den Plattenladen meines Vertrauens, direkt zu den Neuheiten, dort war Formal Growth… zuvorderst einsortiert. Ich glaub das war der kürzeste Plattenladenbesuch ever. Das Album ist so gut - aktuell tendiere ich zur geteilten Spitzenposition innerhalb der Proto-Diskografie zusammen mit Relatives…

Dulle

Postings: 227

Registriert seit 29.10.2021

2023-06-03 11:47:16 Uhr
Bin mittlerweile ziemlich begeistert, macht echt süchtig. Ich habe bei diesem Album mittlerweile 389 min auf der Uhr (also mehr als 10 Durchläufe) und muss aufpassen, dass ich es nicht zu schnell totspiele.

Ich sehe es momentan auf ähnlichem Niveau wie Ultimate Success Today (8,5/10), vielleicht noch etwas unter Relatives In Decscent (9/10).

Unangemeldeter

Postings: 1037

Registriert seit 15.06.2014

2023-06-03 11:39:15 Uhr
Dem stimme ich nur bedingt zu - in meiner Erfahrung mit der Band haben sich gerade die Songs am besten gehalten, die mich von Anfang an voll überrumpelt haben. Processed by the boys, Worm in Heaven, Half Sister, Cowards Starve... fand ich alle aufs erste Ohr direkt unfassbar geil. Und so einer scheint mir auf dem neuen Album nicht drauf zu sein.
Aber eh klar dass das hier noch öfter läuft, manchmal ist es ja auch Stimmungssache wie empfänglich man ist.
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