Feist - Multitudes

Polydor / Universal
VÖ: 14.04.2023
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10

Army of me
Es sei "nichts Performatives" mehr in ihr, sagte Leslie Feist über den Schreibprozess ihres sechsten Albums. Das ist ein bisschen ironisch, weil sie dessen Song-Ideen tatsächlich in experimentellen Live-Performances ausarbeitete, in Bezug auf die emotionale Inspiration dahinter jedoch auch komplett sinnig. Fast zeitgleich trauerte sie um ihren verstorbenen Vater und erfuhr tiefstes Mutterglück über ihre Adoptivtochter Tihui, und die simple Intensität dieser Ereignisse sorgte dafür, dass "Multitudes" Feists reduzierteste, intimste, nackteste Platte bisher darstellt. Nicht, dass die Abkehr vom vergleichsweise lauten "Pleasure" an sich überraschen würde – wir sprechen immerhin von der Künstlerin, die den mit iPod-Werbungen und der Sesamstraße verknüpften Erfolg ihres Twee-Pop-Hits "1234" mit einem düster-verschleppten Blues-Folk-Meisterwerk namens "Metals" konterte. Und natürlich muss ob der ungebrochenen Songwriting-Künste der Kanadierin sowie zahlreicher Arrangement-Details niemand befürchten, plötzlich in seichten Akustik-Gewässern aufzulaufen.
Dennoch können die titelgebenden "Multitudes" wohl kaum dessen Stilvielfalt meinen, beziehen sich womöglich auf ein wiederkehrendes Produktions-Element: die Multiplikation von Feists Stimme. Die Polyphonie gibt dem ganzen Album Charakter, baut etwa "Calling all the gods" ein formwandelndes rhythmisches Fundament aus Feist-Chören und sät den Gedanken, dass der Opener "In lightning" sogar ein klein wenig wie Björk klingt. Hier treffen die Vocal-Loops auf zerhackte Streicher, einen wahrscheinlich von Baumgeistern getrommelten Tribal-Beat und Gitarren-Synth-Schauer, die auf halbem Weg zum Boden feststecken. Es ist einer von zwei auffälligen – und grandiosen – Ausreißern aus dem leisen Grundtenor der Platte. Der andere, "Borrow trouble", euphorisiert sich als Orchester-Stampfer im Geiste der frühen Arcade Fire bis zu einem entfesselten Saxofon-Solo, und schreit am Ende alle aufgestauten Gefühls-Cocktails einfach aus sich heraus. Ansonsten dominiert eine Stimmung trostvoller Zuwendung, die der abschließende "Song for sad friends" bereits im Titel ausdrückt.
"Everybody's got their shit / But who's got the guts to sit with it?" fragen die Feists in "Hiding out in the open", einer Gruppentherapie-Session am Lagerfeuer. Der Track ist Teil eines schlagzeuglosen Akustik-Quartetts in der ersten Albumhälfte, doch offenbart bei genauem Hinhören jedes Stück seine eigene Textur. "Forever before" singt ohne Romantisierung vom Elternsein, artikuliert zu im Raum verhallendem Fingerpicking die Gleichzeitigkeit von Freude und Angst, während dezente Industrial-Geräusche im Hintergrund lauern. Ein unwirklich schöner Streicher-Schwarm zieht am Himmel über "Love who we are meant to" vorbei, das Feist mit ihrer feinsten Klangpoesie schmückt: "Drafting as I drift / I cannot write nor reckon it / So will I let it wreck me / Or wreck my dream of family?" Das federleichte "The redwing" braucht indes überhaupt keine Schnörkel, um vor melodischer Grazie zu strahlen.
Die zweite Hälfte von "Multitudes" hält die musikalische wie inhaltliche Tiefe aufrecht. Über Cello-Brummen und flötenden Synths sieht sich "Martyr moves" zweifelnd einer destruktiven Beziehung gegenüber: "Will the loneliness crush me more alone or with him?" "Of womankind" verbindet die Odyssee mit Fragmenten modernen Frauseins ("Hugging pepper spray at night", "We check under our cars") und klingt dabei wie aus einer klassischen Hollywood-Romanze gerissen. "I took all of my rings off" hebt inklusive Retro-Keyboard-Solo eher zur abstrakten Science Fiction ab – ist aber kein Vergleich zur spirituellen Erfahrung, die "Become the earth" auslöst. Es geht um den Tod als natürlichen Prozess, um mit der Erde verschmelzende Körper, die Stimmen verlieren von außerirdischen Frequenzen durchsetzt die Haftung zur fassbaren Welt und formen irgendwann ihr ewiges Mantra: "Some people have gone and the people who stayed / Will eventually go in a matter of days." Es ist ein sprachlos machender Moment der Transzendenz von Mensch und Natur, und damit erstaunlicherweise die zweite Björk-Referenz eines Albums, auf dem man nicht gerade damit gerechnet hätte. Doch Feists Grandeur bleibt auf ewig ihre ganz und gar eigene.
Highlights
- In lightning
- Love who we are meant to
- Become the earth
- Borrow trouble
Tracklist
- In lightning
- Forever before
- Love who we are meant to
- Hide out in the open
- The redwing
- I took all of my rings off
- Of womankind
- Become the earth
- Borrow trouble
- Martyr moves
- Calling all the gods
- Song for sad friends
Gesamtspielzeit: 46:32 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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jo Postings: 6896 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-05-11 20:31:25 Uhr
Andererseits könnte es da auch bei regnerischen Wochen schon ziemlich abgekühlt sein... |
Francois Postings: 1362 Registriert seit 26.11.2019 |
2023-05-11 16:01:20 Uhr
Gasometer im Hochsommer... die Hölle... |
myx Postings: 5541 Registriert seit 16.10.2016 |
2023-05-09 19:14:30 Uhr
Zürich ist eine Überlegung wert. Danke für die Info, Klaus. |
Klaus Postings: 10778 Registriert seit 22.08.2019 |
2023-05-09 16:58:43 Uhr
30.08.23 Berlin, Verti Hall31.08.23 Wien, Gasometer 02.09.23 Zürich, Theater Spektakel 04.09.23 Köln, E Werk |
jo Postings: 6896 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-04-26 21:34:58 Uhr
Prima Rezension. Hat Spaß gemacht, sie zu lesen (nebenbei das Album im Durchlauf :) ) und sehe/höre vieles ähnlich. |
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Referenzen
Lana Del Rey; Weyes Blood; Nina Nastasia; Florist; Joni Mitchell; Nick Drake; Leonard Cohen; Mount Eerie; Kings Of Convenience; Sufjan Stevens; Laura Marling; Laura Veirs; Angel Olsen; Courtney Marie Andrews; Sophia Kennedy; Sharon Van Etten; Lisa Hannigan; Alela Diane; Neko Case; Jenny Lewis; Cat Power; She & Him; ICamera Obscura; M. Ward; Iron & Wine; This Is The Kit; Florence & The Machine; Broken Social Scene; The New Pornographers; Self Esteem; Perfume Genius; Blake Mills; Dirty Projectors; Kate Bush; Björk
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