Wednesday - Rat saw God

Dead Oceans / Cargo
VÖ: 07.04.2023
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Ränder im Fokus
Karly Hartzman genügen wenige Worte, um den Schauplatz ihrer Erinnerungsvignetten zu skizzieren: "There's a sex shop off the highway with a biblical name", singt sie in "Turkey vultures" zu atmosphärisch verhallenden Gitarren, die sich nach und nach emporwirbeln. Dort, wo der Blick nach Gott sucht, dabei zersplitterte Flaschen im ungemähten Gras, das flackernde Neonlicht alter Tankstellen, den pillenschmeißenden Kumpel auf der Couch im Keller streift, sind ihre Erzählungen zu Hause. Schon der Albumtitel zeigt diesen Kontrast an, der in den zehn Songs auf Wednesdays – davon ist fest auszugehen – Durchbruchsalbum zum anekdotischen Funkenschlag einer Jugend in den Südstaaten verhilft. Hartzman sammelt Details, fügt sie als Mosaiksteinchen zu einem Panorama zusammen und frönt gemeinsam mit ihren vier Mitstreitern einem leidenschaftlichen Indie-Rock, der all das in Szene setzt. Gitarrist MJ Lenderman richtet dabei des Öfteren den Blick auf die Pedale, arbeitet mit Flächen und Texturen, während Xandy Chelmis' Lap Steel Country-Nostalgie heraufbeschwört – zwei Fäden einer musikalischen Sozialisierung, die Wednesday gekonnt miteinander verweben.
Als eineinhalbminütiger Parforceritt grüßt der Opener "Hot rotten grass smell" seinem Titel gemäß als sinnliche Überforderung. Grungige Riffs, shoegazige Strudel und ein kurzer Einbruch ins Intime, der die alten Alben der großen Südstaaten-Poetin Cat Power evoziert, verdichten sich hier fulminant. Ihre emotional zehrendsten, unmittelbar aufwühlendsten Songs packen Wednesday an den Anfang, ganz so, als sortiere das Album langsam einen Haufen auf dem Boden zerstreuter Fotos. "Bull believer" nimmt sich im Gegensatz jedoch sehr viel Zeit, gerät in fast neun Minuten zum einzigen Epos auf "Rat saw God". Abhängigkeit und Sucht überblenden sich in Hartzmans Lyrics mit einer ausgedehnten Stierkampf-Metaphorik, bevor im zweiten Teil die emotionale Distanz völlig abgebaut wird. Wieder sind die Bilder in ihrem Unbehagen scharf und präzise: "Poured one out for all my guys / The tiny monuments get propped up on the roadside." Dann verlangsamt sich der Song, taumelt angetrunken an kurzen Noise-Ausbrüchen vorbei, rutscht in ein zunächst sediert wirkendes Outro, bis sich um die verlorene, schließlich entfesselt kreischende Sängerin klaustrophobische Gitarrenwände errichten. "Bull believer" verlangt in seiner viszeralen Intensität viel ab, wenn Hartzman von der weitsichtigen Erzählerin zur reinen Stimme, zum reinen Körper wird.
Wie breit das Register der Band auch abseits solcher beeindruckenden Momente ist, zeigt sich in der Folge. In "Formula One" kitzeln zarte (Slide-)Gitarren verschrobene Alltagsbeobachtungen wach, die aber nicht aus ihrem sonntagnachmittäglichen Phlegma verscheucht werden wollen. "Chosen to deserve" empfängt mit einem überraschend freundlichem Power-Pop-Riff und spielt sich mit geerdeten Gitarren zum potenziellen Hit, der auch im Heartland-Radio nicht fehl am Platz wäre. Sex und Drogen können Hartzmans Defätismus zwar nicht vertreiben – "now everywhere is loneliness and it's in everything" – und doch siegt am Ende aufrichtige Erleichterung mit leichtem ironischem Lächeln: "Thank God that I was chosen to deserve you." "Quarry" schmiegt sich – ob bewusst oder unbewusst – in seiner Strophenmelodie sehr eng an den The-Kinks-Klassiker "Waterloo sunset" und beschreibt Haus für Haus die Zustände einer imaginierten Straße in der Vorstadt. Einmal mehr besticht die Aufmerksamkeit der Erzählerin. "She says 'America's a spoiled child that's ignorant of grief' / But then she gives out full-sized candy bars on Halloween", heißt es da in perfekter Doppelbödigkeit zwischen Ritual und Anlass. Und auch die Kinder einer dysfunktionalen Familie werden mit einem Halbsatz umfassend charakterisiert: "Flat parts on their crew cuts from laying their heads on their knees."
"Rat saw God" ist ein überaus frisches, im besten Sinne des Wortes aber auch klassisches Rockalbum geworden, indem es die traditionellen Themen des Genres höchst eloquent ergänzt. Es wühlt sowohl in seiner musikalischen Vielfalt auf, die mühelos mit Grunge, Shoegaze, Punk, Alt-Country und Roots-Rock hantiert, als auch in seinem textlichen Scharfsinn, der Geschichten der verlorenen Seelen Amerikas, der Armen, der Außenseiter und missverstandenen Teenager aufs Tableau bringt und zugleich mit persönlicher Nähe verbindet. Seine letzten beiden Songs klingen verhältnismäßig ruhig aus. Hartzman formuliert darin so etwas wie ihr Leitmotiv: "Suddenly it's a tragic story / But that's what's so funny."
Highlights
- Hot rotten grass smell
- Bull believer
- Chosen to deserve
Tracklist
- Hot rotten grass smell
- Bull believer
- Got shocked
- Formula One
- Chosen to deserve
- Bath County
- Quarry
- Turkey vultures
- What's so funny
- TV in the gas pump
Gesamtspielzeit: 37:03 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Mr Oh so Postings: 3254 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-12-19 17:30:06 Uhr
Bekommt auf jeden Fall den Sonderpreis "Bestes Reinrumpeln in ein Album des Jahres". Herrlich. |
VelvetCell Postings: 7875 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-09-15 09:39:49 Uhr
Sehe ich im Grunde genau wie du. Nur klingt die Sängerin eben 1-zu-1 wie Adrienne Lenker. |
saihttam Postings: 2582 Registriert seit 15.06.2013 |
2023-09-15 00:52:27 Uhr
Ich finde es interessant, dass das viele so nah an Big Thief hören. Klar, die Referenz ist da, aber finde das hier schon deutlich krachiger, rockiger, grungiger. Ich mags, gerade die Mischung der Stile. Aber im direken Vergleich berühren mich Big Thief schon deutlich mehr. |
MopedTobias (Marvin) Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion Postings: 20158 Registriert seit 10.09.2013 |
2023-05-25 11:27:43 Uhr
Tolles Album, Big Thief + Grunge passt. Top-10-Kandidat in einem ohnehin schon wieder super starken Jahr. |
Immermusik Postings: 1173 Registriert seit 04.11.2021 |
2023-04-25 09:43:03 Uhr
Nochmal gewachsen. Jahresendlistenkandidat auf alle Fälle. Die Stimme empfinde ich als absolut passend. Wie Wednesday Country interpretieren kann man auf dem Coversong She’s acting single (I‘m drinking double) wunderbar hören. Ein Country No. 1 Hit aus den 70ern. https://youtu.be/ZJCFir5bB40 Haben letztes Jahr ein ganzes Album mit Covern veröffentlicht. Klingt auch spannend. |
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Referenzen
PJ Harvey; Modest Mouse; Big Thief; Hop Along; Yeah Yeah Yeahs; Snail Mail; Holly Hendrix; Indigo De Souza; Hole; Cat Power; Waxahatchee; The Wrens; Ovlov; The Beths; Laura Stevenson; Momma; Van Chamberlain; Spirit of the Beehive; Great Grandpa; Nirvana; The Replacements; Sleater-Kinney; Clairo; Julien Baker; A Country Western; Pinegrove; Magnolia Electric Co.; The Swirlies; Th' Faith Healers; Diiv; Lucinda Williams; Larry McMurtry; Tom Petty; Bruce Springsteen; R.E.M.
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