Charlie Cunningham - Frame

BMG / Warner
VÖ: 31.03.2023
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Schatten an der Wand
"People change to survive", säuselt es irgendwann um Minute eins herum. "Bird's eye view" handelt vom Verlust eines geliebten Menschen und davon, ob und wie Spiritualität und Glauben im Strudel der Trauer einen Halt bieten können. "Eventually disappear / Entirely", heißt es dann zum Ende des Songs, der mit seinem triolisch leiernden Rhythmus an ein Wiegenlied erinnert. Verändern und Verschwinden. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen entfaltet "Frame" seine stille Größe, die so nicht unbedingt zu erwarten war. Neben einigen hörenswerten EPs hat Charlie Cunningham bislang zwei Alben aufgenommen. Auf das wunderbare “Lines" folgte mit "Permanent way" 2019 eine Platte, die ihre Sache zwar erneut ausgesprochen gut machte, den Stil des Debüts aber im Grunde nur weiter orchestral vergrößerte oder mit einem wabernden Elektrofundament unterlegte. Im Vergleich zum Vorgänger gibt sich "Frame" nun zugleich reduzierter und offener. Die spärliche, oft nur von Akustikgitarre oder Klavier getragene Instrumentierung unterläuft den Hang zum Hymnischen. Neu gefundene Einflüsse aus traditionellem Jazz und Minimal Music à la Philip Glass sind vernehmbar, aber halten sich im Hintergrund.
Mehr als vom Hinzufügen von Neuem lebt "Frame" von der Aussparung. Vom bewussten Verzicht auf große Töne und schiere Überwältigung. Vom Andeuten, aber nicht bis zur letzen Note Ausformulieren. Es ist ganz überwiegend ein leises und in sich gekehrtes Werk, beginnend mit "Shame I know", das unvermittelt an ein beiläufiges Piano-Intro anschließt. Fein gesetzte Akkorde und ein sachter Drum-Beat erklingen, später kommen noch gedämpfte Bläser hinzu. Persönlich und intim auch das folgende "So it seems", das mit wunderbarem Folkpop zwischen Neil Young und Old Sea Brigade manövriert. Es geht um den Zweifel, der nagt, aber auch um die Hoffnung auf Gewissheit, die trotz allem nicht vergeht. "This indecision has turned to self-belief", singt Cunningham schließlich. Musikalisch ist mit "So it seems" aber tatsächlich schon das Höchstmaß an Opulenz erreicht, zu dem sich der Brite auf "Frame" hinreißen lässt. Das sanfte "Friend of mine" oder der eindringliche Titelsong kommen etwa ganz ohne perkussives Beiwerk aus. In ersterem erinnern noch Gitarrenspiel und Melodieführung an die ruhigen Momente der früheren Alben, die Introspektion tritt in eine weitere Runde ein: "Where do I belong? / Who should I now become? / 'Cause this doesn't feel right / I learned to play along / If just to survive / Till our moment arrives."
Der Titel- und Schlusssong offenbart sich hingegen als berührende Klavierballade, die zwar nicht ganz so nah an der Stille gebaut ist wie das überwiegend instrumentale "Water tower", aber in seiner Kargheit eine große Wirkung entfaltet. Das Gefühl der Verletzlichkeit spiegelt sich hier wie schon an vielen Stellen zuvor auch in Intonation und Klangfarbe von Cunninghams Gesang wider, der von zaghaftem Flüstern bis hin zum zerbrechlichen Falsett reicht. Vor diesem finalen Schlussakkord passiert aber noch eine Menge: "Starlings", "Watchful eye", "Downpour" oder "Pathways" sind Songs, die zunächst vielleicht noch flüchtig vorbei huschen wie Schatten an einer Wand. Die aber hinter ihrer ersten vornehmen Bescheidenheit doch eine emotionale Tiefe verbergen, die es zu entdecken lohnt. Wenn man sich denn darauf einlassen mag. Denn seiner ganzen Anlage und Absicht nach ist "Frame" eben auch kein Werk, das die Hörer*innen auf Anhieb umarmt. Das mit einem Über-Song wie "Minimum" aufwarten kann, den man sofort ins Herz schließen mag. Aber vielleicht eines, das, wenn es den Weg dorthin erst einmal gefunden hat, eine Weile bleiben wird. "She said there's always a time and a place for this type of thing / Perhaps not now, though, I don't think."
Highlights
- So it seems
- Friend of mine
- Pathways
- Frame
Tracklist
- Intro
- Shame I know
- So it seems
- Bird's eye view
- Friend of mine
- Starlings
- Watchful eye
- Downpour
- Pathways
- Water tower
- End of the night
- Frame
Gesamtspielzeit: 40:57 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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musie Postings: 4134 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-04-26 07:33:22 Uhr
Gestern live gesehen: GROSSARTIG! Eine Wucht. und dazu noch mit der wunderbaren Rachel Sermanni als Opening Act. Die Songs vom neuen Album erscheinen mir ein bisschen zugänglicher als das ältere Material. |
jo Postings: 6944 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-04-24 22:01:57 Uhr
Ich muss noch genauer reinhören. Fand manche Vorabsongs aber wirklich stark. |
musie Postings: 4134 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-04-24 21:07:10 Uhr
dieses Album hat sich bei mir zu einem Jahreshighlight entwickelt. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28799 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-04-12 20:35:12 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
etienoir Postings: 910 Registriert seit 03.02.2023 |
2023-04-02 07:31:23 Uhr
für mich der beste aktuelle singer/songwriter. zudem hatte ich das glück, ihn ganz zu beginn seiner karriere live zu erleben, und auch das gesamtpaket stimmte: ein sehr sympathischer, bescheidener mensch. freu mich sehr auf das neue album. |
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Referenzen
José González; Harrison Storm; Henry Jamison; Fenne Lily; Black Sea Dahu; Iron & Wine; William Fitzsimmons; Nick Mulvey; Old Sea Brigade; Rosemary & Garlic; Jon Bryant; Scott Matthews; Jono McCleery; Ben Howard; Bon Iver; Luke Sital-Singh; James Vincent McMorrow; Villagers; Kings Of Convenience; Fiona Apple; Junip; Phoebe Bridgers; Daniel Cirera; Sam Amidon; City And Colour; M. Ward; Dekker; Ocie Elliott; Radical Face; Antony & The Johnsons; Lily Kershaw; Julien Baker; Freyr; Philip Glass; Chris Staples; Sharon Van Etten; Neil Young; Sparklehorse; Courtney Marie Andrews; King Creosote & Jon Hopkins; Vicente Amigo; Father John Misty; The Bony King Of Nowhere; Jules Ahoi; James Blake; Sufjan Stevens; Devendra Banhart; Chilly Gonzales; Dangers Of The Sea; The Slow Show; Ry X; The National; Nick Drake; A Mote Of Dust
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